Kirche ragt in ihrem soziologischen Radius nach noch immer weit über den Kreis der eigentlich Glaubenden hinaus und ist durch diese institutionalisierte Unwahrheit in ihrem wahren Wesen tief verfremdet. Die Publizitätswirkung des Konzils und die scheinbar möglich werdende Annäherung von Glaube und Nichtglaube, die die Berichterstattung fast zwangsläufig vortäuschte, hat diese Verfremdung aufs Äußerste radikalisiert: Der Beifall für das Konzil kam zum Teil auch von denjenigen, die selbst gar nicht vorhatten, Gläubige im Sinn der christlichen Überlieferung zu werden, aber einen "Fortschritt" der Kirche in Richtung auf ihren eigenen Entscheid als Bestätigung ihres Weges begrüßten.
Zugleich ist freilich auch in der Kirche selbst der Glaube in eine erregende Gärung geraten. das Problem der geschichtlichen Vermittlung lässt das alte Credo in ein schwer deutbares Zwielicht treten, in dem die Umrisse der Dinge sich verwischen; der Einspruch der Naturwissenschaften oder mehr noch dessen, was man für modernes Weltbild hält, tut das Seinige, um diesen Prozess zu verschärfen.
Die Grenzen zwischen Auslegung und Leugnung werden, gerade im Herzen des Ganzen, immer unkenntlicher: Was heißt "auferstanden von den Toten" eigentlich? Wer glaubt, wer legt aus, wer leugnet? Und hinter dem Streit um die Grenzen der Auslegung verschwindet zusehends das Antlitz Gottes. "Tod Gottes" ist ein ganz realer Prozess, der heute bis tief in die Kirche hineinreicht. Gott stirbt in der Christenheit, so scheint es. Denn wo Auferstehung zum Widerfahrnis eines in überholten Bildern empfundenen Auftrags wird, da handelt Gott nicht.
Handelt er überhaupt? Das ist die Frage, die auf dem Fuße folgt. Aber wer will so reaktionär sein, auf einem realistischen "Er ist auferstanden" zu bestehen? So ist dem ein Fortschritt, was der andere für Unglaube halten muss und das bislang Undenkliche wird normal, dass Menschen, die das Credo der Kirche längst verlassen haben, sich guten Gewissens als die wahrhaft fortgeschrittenen Christen ansehen. Für sie aber ist der einzige Maßstab, an dem die Kirche zu messen ist, die Zweckmäßigkeit, mit der sie funktioniert; freilich bleibt noch die Frage, was zweckmäßig ist und wozu das Ganze eigentlich funktionieren soll. Für Gesellschaftskritik, für Entwicklungshilfe, für Revolution? Oder für gemeindliche Feiern? Auf jeden Fall muss man von Grund auf neu anfangen, denn für all das war Kirche ursprünglich nicht gemacht und in ihrer gegenwärtigen Form ist sie ja wohl auch wirklich nicht funktionstüchtig dafür.
So steigt das Unbehagen bei Gläubigen und Ungläubigen. Das Hausrecht, das der Unglaube in der Kirche gewonnen hat, lässt beiden die Lage immer unerträglicher erscheinen; vor allem ist tragischerweise durch diese Vorgänge das Programm der Reform in eine merkwürdige und vielen kaum noch auflösbare Zweideutigkeit geraten.
aus: Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI.: Credo für heute; Was Christen glauben; Herder spektrum Bd. 5683; Herder Verlag Freiburg im Br.; AD 2006; S. 195f, aus: Das Credo der Kirche - Warum ich noch in der Kirche bin, in: Hans Urs von Balthasar/ Joseph Ratzinger, Zwei Plädoyers. Kösel-Verlag, München 1971, S. 57-75
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