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Samstag, 15. November 2014

Ehrfurcht und Liebe - Begegnung mit dem Ganz-Anderen

von P. Bernward Deneke FSSP, Wigratzbad

Predigt am 22. Juni 2014, 2. Sonntag nach Pfingsten; Nachprimiz von P. Robert Dow FSSP

„Zu Deinem Namen, Herr, lass uns zugleich Furcht und immerwährende Liebe haben, da Du ja niemals denen Deine Führung entziehest, die Du in der Festigkeit Deiner Liebe begründest.“ (Oratio)

Stellen wir uns einmal vor, wir hätten heute, bei dieser heiligen Messe, eine Art kollektive Vision. Plötzlich wären wir alle im Geiste entrückt. Und da würde sich uns folgendes Bild bieten: Inmitten sieben goldener Leuchter wäre hier am Altar eine Gestalt zu sehen, einem Menschen gleich und doch ganz anders. Ein himmlisches Wesen, angetan mit einem wallenden Gewand und umgürtet mit goldenem Gürtel. Sein Haupt und Seine Haare wären wie schneeweiße Wolle, die Augen wie eine Feuerflamme, die Füße wie glühendes Glanzerz. Der Klang Seiner Stimme tönte donnernd wie das Rauschen vieler Wasser. In Seiner Hand hielte diese Erscheinung sieben Sterne, und aus ihrem Mund ginge ein scharfes, zweischneidiges Schwert hervor. Das Antlitz leuchtete, wie wenn die Sonne in aller Kraft scheint. 

Diese Vision wäre so ganz anders als alles, was uns vertraut ist. Anders als die lieblichen, gefühlvollen Bildchen von Jesus, die uns in der Welt der Frömmigkeit begegnen. Anders aber auch als die großen Kunstwerke, die den Herrn zeigen. Sogar anders als die ehrfurchtgebietenden Christusikonen der Ostkirche und die machtvollen Mosaiken in alten Kirchen. Was würde wohl mit uns armen Sterblichen geschehen, wenn wir solches jetzt zu schauen bekämen? Vermutlich nichts anderes als das, was an demjenigen geschah, der diese Christuserscheinung vor wohl mehr als 1900 Jahren hatte. In seiner Apokalypse berichtet uns ja der heilige Apostel Johannes, dass er bei seiner Verbannung auf der Insel Patmos diese Schauung hatte. Und was geschah mit ihm? Johannes stürzte wie tot zu Füßen des Herrn nieder und musste durch dessen rechte Hand wieder aufgerichtet werden. Welche Vorstellung, das würde hier und heute uns allen geschehen! 

In der Religionsphilosophie spricht man seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerne davon, das Heilige sei für uns Menschen ein mysterium tremendum et fascinans. Rudolf Otto, auf den die Formulierung zurückgeht, wollte damit die Wirkung dessen beschreiben, womit wir es in der Religion zu tun haben. Die Begegnung mit dem Bereich des Ganz-Anderen, des Göttlichen, lasse den Menschen erschrecken und erzittern: mysterium tremendum. Zugleich aber schlage es ihn in Bann, ziehe ihn wie magisch an, fasziniere ihn: mysterium fascinans.

Dieser Doppelcharakter wird tatsächlich an den verschiedenen Gotteserscheinungen der Bibel deutlich: Moses erblickt den brennenden Dornbusch und sagt sich: „Ich will doch hingehen und dieses seltsame Schauspiel betrachten.“ Als der Herr ihn aber aus dem Dornbusch anspricht, heißt es: „Da verhüllte Moses sein Angesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.“ Beides liegt hier direkt beieinander: die magnetische Anziehungskraft und die Furcht davor, den Allheiligen zu schauen. 

Ähnlich beim Propheten Elias, der auf dem Berg den Vorübergang des Herrn erlebt. Nach einem heftigen Sturm, der Berge zersprengt und Felsen spaltet, nach Erdbeben und Feuersbrunst vernimmt der ein leises, sanftes Säuseln. Und die Schrift sagt: „Da, als Elisas dies vernahm, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel, ging hinaus und trat an den Eingang der Höhle.“ Er kann nicht anders, als sein Gesicht zu verbergen – mysterium tremendum. Und doch ist er von der Gotteserscheinung in Bann geschlagen und tritt in den Eingang – mysterium fascinans

Nicht anders bei den Propheten Jesaja und Ezechiel, die überwältigender Schauungen gewürdigt werden. Jesaja erlebt die Gotteserscheinung im Tempel wie hingerissen, ruft aber dann aus: „Wehe mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk mit unreinen Lippen, und meine Augen haben den König, den Herrn der Heerscharen, geschaut.“ Und Ezechiel hat die Vision vom göttlichen Thronwagen. Sie wirft ihn zur Erde, und nachdem ihn der Geist Gottes emporhebt, gerät er doch in tiefste Niedergeschlagenheit, sieben Tage bleibt er starr und stumm unter den Menschen. Ein postvisiönäres Syndrom, ein Depression vielleicht? Nein, Ezechiel wurde vom mysterium tremendum et fascinans, gepackt! 

Ja, wir könnten noch eine ganze Reihe solcher göttlichen Manifestationen anführen, in denen Menschen zugleich von Furcht und Faszination gepackt wurden. Denken wir im Neuen Testament nur an die Hirten, denen die Engel über den Fluren Bethlehems die Geburt des Messias künden: Sie fürchten sich sehr und sind doch bald schon von solcher Begeisterung, solchem Jubel ergriffen! Und dann eben die apokalyptische Vision des Johannes auf Patmos. Bemerkenswert ist, dass ausdrücklich gesagt wird, sie sei an einem Sonntag geschehen. Es drängt sich geradezu der Gedanke auf: am Sonntag, bei der Feier der heiligen Geheimnisse, bei der Messe! Das würde auch insofern passen, als die Apokalypse des heiligen Johannes stark liturgisches Gepräge trägt, ja in ihrem Ablauf große Ähnlichkeiten mit dem Tempelkult der Juden wie mit dem Gottesdienst der Christen hat. Und daher ist es auch keineswegs absurd, wenn wir uns vorstellen, uns würde hier und heute, bei dieser heiligen Feier, eine solche Schau zuteil. 

Jedenfalls ist die Wirklichkeit, die hinter der sakramentalen Zeichenwelt steht, von himmlischer, göttlicher Art. Sie ist tatsächlich umwerfend und hinreißend. Nur, dass wir oberflächlichen Geister das so leicht vergessen und daher völlig teilnahmslos und gelangweilt dabei sein können. Wir haben die Heilige Messe ja schon so oft erlebt, etwas Neues gibt es dabei ohnehin nicht mehr zu erwarten. Zwar glauben wir noch irgendwie das, was die Kirche darüber lehrt: Vollzug des Opfers Jesu Christi, Gegenwart des himmlischen Herrn, wie Ihn Johannes geschaut hat. Aber wir sind in den geistlichen Sinnen unentwickelt oder abgestumpft, im Herzen dem liturgischen Geschehen entfremdet. Und daher bewegen sich unsere Gedanken überall umher. Von einer Begegnung mit dem mysterium tremendum et fascinans, einer Überwältigung durch das unfassbare Ereignis kann nicht die Rede sein.

Wenn das nun schon von den Gläubigen gilt, die in einigem Abstand der Zelebration am Altar beiwohnen: Wie ist es dann erst für den Priester, der solches nicht nur dann und wann aus der Ferne miterlebt, sondern der es nach dem Willen der Kirche täglich vollzieht; der die heilige Gestalt bei der Wandlung in seinen Händen hält, sie bricht und später den Gläubigen austeilt? Ist er nicht in noch größerer Gefahr als alle anderen, das alltäglich gewordene Tun dann auch wie etwas Alltägliches zu tun, vor allem, wenn er es jahre- und jahrzehntelang verrichtet? Mit welcher inneren Anteilnahme wird unser Neupriester Robert Dow in 5, 10 oder 20 Jahren seine soundsovieltausendstes Messopfer darbringen? 

So unterliegt das Höchste und Heiligste scheinbar zwangsläufig dem Verschleiß, und gelegentlich tritt es uns, schmerzlich vielleicht, zu Bewusstsein, dass es eigentlich anders sein sollte. Aber die Sache mit dem mysterium tremendum et fascinans ist eben eine beeindruckende Theorie, die mit der Praxis nicht viel zu tun hat. Was sollte es auch nützen, wenn die Priester ständig entrückt und entzückt wären? Dadurch käme doch nur die Zeitplanung durcheinander… 

Sagen wir es sogleich: Es ist auch gut so und entspricht Gottes weiser Einrichtung, dass die Heilige Messe normalerweise eher nüchtern erlebt wird, im Glauben und nicht in ekstatischer Schau. Der Gottessohn ist in die Welt und in die Zeit eingegangen und durch die Sakramente, vor allem durch die Eucharistie in der Welt und in der Zeit geblieben. Dadurch hat Er für uns tatsächlich eine gewisse Alltäglichkeit angenommen. Aber – und das ist das große Aber – jeder von uns, allen voran der Priester, steht in der Pflicht, alles zu tun, damit daraus keine blasse und hohle Alltäglichkeit werde, sondern die Ehrfurcht und Liebe zu diesen Geheimnissen und zu dem, der in Ihnen zu uns kommt, tiefer und lebendiger werde. Ehrfurcht und Liebe – das ist ja die Antwort auf das mysterium tremendum et fascinans. Insofern es uns erzittern lässt, erfüllt uns die Furcht des Herrn, insofern es uns aber in Bann schlägt, ergreift uns heilige Liebe.

Daher kann ich am Tage der heutigen Nachprimiz unserem Neupriester und uns allen gar nichts Besseres auf den Weg geben als das, was uns die Kirche auf den Weg gibt. Das Tagesgebet dieses zweiten Sonntags nach Pfingsten bittet nämlich genau um dies: um Ehrfurcht und um Liebe. Noch ganz unter dem Bann des Fronleichnamfestes stehend (in dessen leider abgeschaffte Oktav der heutige Sonntag früher fiel) und schon das königliche Hochzeitsmahl des Evangeliums vor Augen, beteten wir eben: „Sancti nominis tui timorem pariter et amorem…Zu Deinem Namen, Herr, lass uns zugleich Furcht und immerwährende Liebe haben, da Du ja niemals denen Deine Führung entziehest, die Du in der Festigkeit Deiner Liebe begründest.“ 

Ehrfurcht und Liebe erhalten uns in der heiligen Spannung. Die Furcht des Herrn, Anbeginn der Weisheit, lässt uns erschüttert erkennen, wer da unter uns ist, und uns niederfallen vor Ihm. Die Liebe aber zieht uns zu Ihm hin in immer größerem Verlangen nach tiefer Vereinigung mit Ihm. Und diese Liebe sichert uns auch die Beständigkeit der göttlichen Führung: „…da Du ja niemals denen Deine Führung entziehest, die Du in der Festigkeit Deiner Liebe begründest.“ Führung heißt nicht nur, dass wir irgendwie mit unserem Herrn verbunden bleiben, sondern vielmehr, dass Er uns zu einer immer innigeren und stärkeren Verbindung geleitet. 

In der Ehrfurcht und Liebe zu bleiben und zu wachsen, dem dient im Leben des Gläubigen, vor allem des Priesters, das Gebet, insbesondere die tägliche Betrachtung der Geheimnisse Gottes. Darin üben sich schon treu die Seminaristen im Hinblick auf ihre spätere Aufgabe, darin muss der Priester ebenso treu verharren, um Tag für Tag das Heiligste mit wachsender Hingabe vollziehen zu können. Ehrfurcht und Liebe werden auch durch die regelmäßige Beichte erneuert und angefeuert: In tieferer Reinheit sind wir empfänglicher für das Licht, das vom eucharistischen Herrn ausgeht. 

Furcht und Liebe zugleich kommen wunderbar in einem Wort des heiligen Pfarrers von Ars zum Ausdruck. Er sagte einmal: Wenn der Priester erkennen würde, was er ist, dann müsste er sterben; sterben nicht vor Angst, sondern aus Liebe. Mysterium tremendum et fascinans der heiligen Messe, mysterium tremendum et fascinans zugleich auch des heiligen Priestertums! Jetzt also, wenn unser Neupriester Robert Dow das Opfer Christi darbringt, lasst uns daran denken: Hier lodert der brennende Dornbusch, hier erfüllt die Herrlichkeit Gottes Sein Heiligtum, hier rufen die Seraphim unablässig ihr „Heilig, heilig, heilig“, hier ist im leisen, sanften Säuseln unser Herr unter uns, Er, dessen Antlitz heller strahlt als die Sonne, dessen Augen wie eine Feuerflamme sind und aus dessen Mund das zweischneidige Schwert hervorgeht. Er selbst ist das mysterium tremendum et fascinans, das Geheimnis, das uns zittern, weitaus mehr aber anbeten, danken und lieben lässt. 

Deshalb unser heutiges Gebet, unterstützt durch die Fürsprache der Gottesmutter und aller Engel und Heiligen, für unseren Neupriester, für alle Diener des Heiligtums und für uns selbst: 

Zu Deinem Namen, Herr, lass uns zugleich Furcht und immerwährende Liebe haben, da Du ja niemals denen Deine Führung entziehest, die Du in der Festigkeit Deiner Liebe begründest.


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Weiteres zur Gottesbegegnung in der Liturgie:



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