Samstag, 23. August 2014

Die Rettung des Menschen, der in seiner Würde bedroht ist - In Maria erkennen wir Ziel und Sinn unseres irdischen Lebens


In unserer Zeit bewegt sich alles um den Menschen. Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit sind die großen Leitworte unserer Zeit. Aber genauer besehen, bleiben es doch nur Worte; denn in Wirklichkeit hat man das Wissen um die Größe und Würde des Menschen verloren. Im Grunde versteht man in der Freizeit-, in der Erlebnis- und Spaßgesellschaft den Menschen vor allem von seiner Fähigkeit her, Lust zu erleben und genießen zu können. Wenn er das noch nicht oder nicht mehr kann, wie im Mutterleib oder im Greisenalter, dann darf man ihn auch beseitigen.

So bestätigt sich bei allem Gerede von Freiheit und Würde des Menschen die Erkenntnis, dass die Gesellschaft dem Menschen die Freiheit und die Würde tatsächlich aberkennt. Deshalb darf man unter christlichem Blickwinkel von der heutigen Zeit sagen: Es geht in ihr um die Rettung des Menschen, der in seiner Würde bedroht ist. Man kann dem Menschen aber seine unbedingte Würde nur erhalten, wenn man ihn von Gott her und auf Gott hin denkt; denn vollkommene, unbedingte Würde kann dem Menschen nur von einem vollkommenen und unbedingten Wesen her kommen. Das freilich ist nur Gott.

An der Gestalt Marias, der in den Himmel Aufgenommenen, geht uns nun aber die höchste Würde des Menschen auf, der von Gott her kommt und für die Vereinigung mit Gott geschaffen ist; denn das selige Einssein mit Gott ist der Himmel. Auf dieses Ziel hin muss auch unser Leben ausgerichtet sein. Sonst gleichen wir Wanderern, die nicht wissen, wohin sie gehen, deren Leben deshalb ziel- und sinnlos wird. Leider leben viele in dem Irrtum, dass der Gedanke an den Himmel das irdische Dasein irgendwie behindere, es schmälere oder es untüchtig mache. Sie lassen sich nicht beeindrucken von dem Wort des Dichters: „Wir bauen hier so feste, und sind doch nichts als Gäste. Doch, wo wir werden ewig sein, da richten wir uns wenig ein“.

Der Blick auf die verherrlichte Gottesmutter, die auch uns das Ziel weist, sollte uns wieder überzeugen: Das Wissen um die zukünftige restlose Gemeinschaft mit dem Herrn ist dem irdischen Dasein nicht hinderlich. Im Gegenteil: Es bewahrt uns vor der Verkrampfung in diese Welt, als ob sie das Ein‑und‑Alles wäre; es gibt uns Kraft, Zuversicht und Hoffnung auf das eigentliche vollendete Leben bei Gott.

Diese Hoffnung sollte am heutigen Festtag (Anm.: Maria Himmelfahrt) mit neuer Kraft in uns aufbrechen; denn Maria zeigt uns nicht nur das Vollendungsziel auf; nach einem uralten marianischen Titel ist sie auch die „Himmelsleiter“, die uns mit dem himmlischen Leben verbindet und uns zum Himmel führt. Vertrauen wir uns heute wieder dieser Leiter an. Dann wird uns dieses Leben gelingen und für uns die Vorstufe zum eigentlichen Leben werden, das uns Maria durch die Gnade Christi schenken will.


aus der Predigt von Leo Kardinal Scheffczyk zum Fest Mariä Himmelfahrt im Jahre 2001 (Quelle: Das Werk FSO)

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