Zuweilen möchte man die Zeituhr zurückdrehen und sich eine Begegnung mit bedeutenden Persönlichkeiten früherer Epochen ausmalen. Wir wäre es wohl gewesen, diese oder jene Berühmtheit in ihrer Lebenswelt anzutreffen?
Weil ich Priester bin und der heilige Jean-Marie Vianney auch für mich ein herausragendes priesterliches Vorbild ist, liegt es nahe, sich eine Begegnung mit ihm, dem Pfarrer von Ars, vorzustellen. Und zwar eine Begegnung unter Priestern. Ich versetze mich also in die Person irgendeines seiner Mitbrüder, der gemeinsam mit dem späteren Heiligen das Seminar besucht und aus dieser Zeit noch manche Erinnerung an ihn bewahrt hat, der aber nachher keinerlei Kontakt mehr zu ihm unterhielt – bis zu den denkwürdigen Ereignissen, die jetzt zu schildern sind. (Hier beginnt der Bericht des Abbé N. N. über seine Wiederbegegnung mit dem Pfarrer von Ars:)
Immer wieder hatte ich in den letzten
Jahren über das Wunder von Ars erzählen hören. Um es
sogleich zu sagen: Es handelte sich bei den Personen, die mir da von
einem außerordentlichen Priester vorschwärmten, nicht um die
Vertrauenswürdigsten. Manche von ihnen waren mir als ausgesprochene
religiöse Exzentriker mit einem Hang zum Aberglauben bekannt. Immer
auf der Suche nach Mirakulösem, hatten sie jetzt offensichtlich eine
neue Sensation ausfindig gemacht: den Pfarrer eines völlig
unbedeutenden Örtchens, dem man allerlei Erstaunliches nachsagte.
Als entschiedener Gegner von
Personenkult und fragwürdiger Mystik hatte ich die Sache zunächst
ignoriert. Weil aber die Wellen des Phänomens Ars mehr und
mehr auch in meinen Seelsorgebereich hinüberschwappten, mußte ich
mich nun doch dafür interessieren. Und das, ich gebe es zu, mit
einer Einstellung, die sich des vernichtenden Urteils bereits sicher
war.
Wie groß aber war mein Erstaunen, als
ich den Namen des legendenumwobenen Pfarrers von Ars vernahm:
Jean-Marie Baptiste Vianney! Anfangs wollte ich es nicht glauben, daß
ausgerechnet jener minderbemittelte Mitstudent von damals nun ein
umschwärmter Geistlicher sein sollte. Aber dann fielen mir andere
Fälle ein, in denen sich gerade Priester mit theologischen Defiziten
durch bestimmte Sonderlichkeiten profiliert und einen Namen gemacht
hatten. Es ist ja bekanntlich nicht schwer, gewisse Schichten des
katholischen Volkes zu beeindrucken und an sich zu binden, Menschen
nämlich, denen es weniger um solide Glaubenslehre und
objektiv-kirchliche Verwaltung der Sakramente geht als um
außergewöhnliche Geschehnisse und fromme Verrenkungen. So
betrachtet, paßte Jean-Marie Vianney also doch ins Bild.
Denn was wußte ich noch von ihm? Er,
ein einfacher Bauernsohn aus Dardilly, war als Spätberufener mit mir
für drei Jahre im Seminar von Lyon gewesen. Dort hatte er nicht im
Ansehen gestanden, eine Leuchte der Wissenschaft zu sein: Weil seine
Leistungen, besonders die Lateinkenntnisse weit unter dem erforderten
Niveau lagen, war er schließlich weggeschickt und später nur auf
Betreiben seines Mentors, des alten Asketen Pfarrer Balley, zur
Abschlußprüfung zugelassen worden.
Vianney gehörte im Seminar zu den
Strengen und Engen, ja er war wohl der Strengste und Engste von
allen. Sein geistliches Streben wirkte auf mich reichlich angespannt,
für fröhliches Zusammensein und festliche Mahlzeiten hatte er
(entgegen der tiefen Weisheit der hl. Theresia von Avila: „Wenn
Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn!“) nichts übrig.
Während seines letzten Seminarjahres schottete er sich gänzlich von
den anderen ab, spielte den Wüstenvater oder Trappisten. Er redete
nicht mit uns und schien ganz in seiner nicht sonderlich einladenden
Welt zu leben. Jean-Marie mag viele Tugenden geübt haben; von
derjenigen der Leutseligkeit aber konnte ich bei ihm keine Spur
feststellen.
Eigentlich hätte man ihm die Pforte
zum Priestertum wohl gar nicht eröffnet. Doch im Abschlußexamen
ließ man sich aus unerfindlichen Gründen auf seine Stufe herab:
Statt in der Kirchensprache befragte man ihn in der Muttersprache,
und da er nicht einmal darin richtig zu antworten wußte, wurde ein
zweiter Gnadenanlauf gewährt. Bei dieser Gelegenheit stellte der
anwesende Generalvikar die Fragen: "Ist
Vianney fromm? Verehrt er die Gottesmutter? Kann er den Rosenkranz
beten?“ Und als man versicherte, er sei wahrhaft ein Vorbild an
Frömmigkeit, entschied sich der Vertreter des Bischofs: „Ein
Vorbild an Frömmigkeit! Gut, ich berufe ihn. Die Gnade Gottes wird
den Rest machen."
Ich weiß noch, auf welches Befremden
der Vorgang bei einigen Mitbrüdern stieß. Als man dann recht bald
von exzessiven Bußübungen munkeln hörte, die der neugeweihte
Priester, inzwischen Vikar in der Pfarre zu Écully, praktizierte,
schien das alle Vorbehalte zu bestätigen. Vianney bei Pfarrer
Balley! Glaubhaften Gerüchten zufolge bestand zwischen dem alten und
dem jungen Asketen gar ein Wettstreit in der Verwendung der Geißel...
Hätte man den Neupriester nicht bei einem gesetzteren, auf
harmonische Persönlichkeitsentwicklung bedachten Pfarrherrn in die
Lehre schicken können? - - -
Mit solchen Gedanken kam ich eines
Abends in Ars an. Ich wollte mir selbst einen Eindruck verschaffen.
Wollte nicht nur vom Hörensagen her urteilen, sondern meine
Ablehnung der Umtriebe aus eigener Anschauung begründen können. Und
dabei schienen mir schon die ersten Augenblicke in dem Ort helfen zu
wollen: Alles war hier vom Kult dieses Priesters erfüllt. Man
tauschte Geschichtchen und Bildchen von ihm aus. Eine offensichtlich
überspannte Frau in der Herberge zeigte jedermann stolz einen Fetzen
aus der Soutane des Pfarrers, den sie ergattert hatte und nun als
Reliquie mit sich herumtrug... Mein Gedanke war: „Daß Vianney sich
das alles nicht verbittet, spricht klar gegen ihn!“
Sehr bald wurden mir auch Inhalte
seiner Verkündigung zugetragen. Die Wirtshäuser soll er vor Jahren
als „Werkstätten des Teufels“, als „Schulen, in
denen die Hölle ihren Unterricht gibt“ und als
„Stätten, wo man die Seelen verkauft“ bezeichnet
haben, den Tanz als „jenen Strick, mit dem der Teufel die
meisten Seelen zur Hölle zieht“, und: „Wer
zum Tanzen geht, läßt vielfach seinen Schutzengel an der Türe
zurück und der Teufel ersetzt ihn, so daß es im Tanzsaal alsbald
ebensoviel Teufel wie Tänzer und Tänzerinnen gibt."
Ist das wohl die Art, in der die weise
und milde Mutter Kirche ihre Kinder unterrichtet sehen will? Daß
Vianney nach glaubhaften Berichten jungen Menschen, die sich des
Schwerstvergehens „Tanz“ schuldig gemacht hatten, über lange
Zeit hin die Lossprechung verweigerte, zeugte für mich davon, wie
wenig in ihm zu finden war von der Güte und Weitherzigkeit der
besten französischen Tradition beispielsweise eines Vinzenz von Paul
und Franz von Sales. Stattdessen fühlte ich mich eher an die Härte
der Jansenisten erinnert.
Dennoch, die Massen strömten zu seinem
Beichtstuhl. Und ich fragte mich: Widerspricht nicht schon dieses
Verhalten dem Willen der Kirche? Der katholische Christ muß doch
wissen, daß die Sakramente von objektiver Wirksamkeit sind und nicht
an der – angeblichen oder tatsächlichen – Heiligkeit eines
bestimmten Priesters hängen. Hätte Vianney auch nur ein wenig
kirchlichen Sinn, dann würde er die Menschenmengen gewiß
fortschicken: „Geht, denn was ihr hier sucht, das könnt ihr bei
jedem rechtgläubigen und rechtmäßigen Verwalter der Sakramente
finden!“ Ja, das wäre ein Ausdruck von menschlicher und
priesterlicher Größe gewesen. Er aber hörte Tag für Tag (und
sogar bis in die Nächte hinein) Beichte um Beichte.
Im Studium hatte
man uns immer wieder gesagt, gerade für die Verwaltung des
Bußsakramentes bedürfe es sehr solider Kenntnisse. Ein „doctus
cum pietate“ solle der Beichtvater sein: ein Gelehrter mit
Frömmigkeit. Von der heiligen Theresia von Avila wird sogar der
Ausspruch überliefert, wenn man sie vor die Wahl zwischen einem nur
frommen und einem nur gelehrten Seelenführer stelle, so werde sie
sich ohne Zögern für den letzteren entscheiden. Was also, dachte
ich mir, ist davon zu halten, wenn jetzt Scharen von Menschen nach
Ars reisen, um sich ausgerechnet Vianney in der Beichte
anzuvertrauen, einem Priester, für den die Kirchenlehrer
Augustinus und Thomas, aber auch unsere hervorragenden Franzosen
Bernhard von Clairvaux, Kardinal Bérulle, Jean Eudes und Franz von
Sales offensichtlich umsonst geschrieben haben... - - -
Ich gestehe, daß mich derartige
Gedanken ganz gefangen genommen hatten, bis ich am kommenden Morgen
plötzlich, ich weiß nicht aufgrund welcher besonderen Gnade, meine
Augen und dann auch nach und nach mein Herz zu öffnen begann, um
anderen, durchaus gegenteiligen Eindrücken den Weg in mein Inneres
zu gestatten. „Ars ist nicht mehr Ars“, dieses schon beinahe
geflügelte Wort, wurde mir auf meinem frühmorgendlichen Weg zur
Kirche eine geradezu handgreifliche Realität. Von den oft unruhigen
und wundersüchtigen Pilgern unterschied ich nun die Einheimischen:
schlichte und einfache Menschen, denen Sensations- und
Geschäftemacherei fern lag, auf deren Gesichtern vielmehr der Glanz
echter Gottverbundenheit erstrahlte. Der Pfarrer, sagte man mir,
versorge sie trotz der heranstürmenden Massen vorbildlich; er lasse
die Herbeigereisten ohne weiteres warten, wenn eines seiner
Pfarrkinder ihn brauche.
Als ich die Kirche betrat, erstaunte
mich die prächtige und geschmackvolle Ausstattung. Ein Gotteshaus,
das die Frömmigkeit gleichsam zu atmen schien und daher die Menschen
mit sanfter Gewalt auf die Knie, zur Anbetung des Hausherrn nötigte;
denn daran, wer hier im Mittelpunkt stand, konnte trotz der
beherrschenden Gestalt des Pfarrers (den ich bisher nicht zu Gesicht
bekommen hatte) kein Zweifel bestehen. Es wunderte mich daher auch
nicht, in diesem Heiligtum neben den Beichtenden schon jetzt
außergewöhnlich viele Beter anzutreffen, manche von ihnen
augenscheinlich in stille Betrachtung versenkt. „Das hat sie unser
Pfarrer gelehrt“, sagte man mir. Ein Vergleich mit dem eher
traurigen Bild, das sich in meiner Pfarrkirche nicht nur zu solcher
Morgenstunde bietet, ließ Scham über die voreiligen Urteile in mir
aufkommen. Sollte es nicht doch möglich sein, daß Gott...?
Es hatte gerade 6 Uhr geschlagen, als
sich die Sakristeitür öffnete und eine abgezehrte, doch lichtvolle
Priestergestalt in edlen Gewändern zum Altar schritt. Vianney! Alle
bereits erwähnten Bedenken und Einwände wollten sich wieder in mir
zu Worte melden, lösten sich aber angesichts dieses Anblicks auf wie
der Frühnebel vor der Sonne. Nichts an meinem ehemaligen
Mitstudenten war exaltiert oder auf Wirkung angelegt. Er zelebrierte
die heiligen Geheimnisse den Vorschriften gemäß, ohne
Eigenwilligkeiten, nichts in die Länge ziehend, dabei zugleich
demütig und würdevoll in allen Bewegungen. Die Hingabe dieses
Priesters an seinen gegenwärtigen, geopferten Herrn war unmittelbar
spürbar, der Geist tiefer Ehrfurcht und inniger Anbetung ging auf
das anwesende Volk über. Selten habe ich an einer Heiligen Messe
ergriffener teilgenommen, geschweige denn sie selbst so zelebriert...
Als ich später die vielgerühmte
11-Uhr-Katechese besuchte, verspürte ich schon gar keine Neigung
mehr, etwaige theologische Unvollkommenheiten aufzuspüren. Und wäre
das noch immer mein Ansinnen gewesen, ich hätte mich doch geschlagen
geben müssen angesichts der Worte voller Weisheit und Liebe, die ich
jetzt zu hören bekam. Es erschien mir als ein freundlicher Wink der
Vorsehung, daß Vianney ausgerechnet heute über das Priestertum
sprach. Er tat es nicht wie ein Büchergelehrter, auch nicht wie ein
bloß Glaubender, sondern eher wie einer, der das, was er beschreibt,
mit inneren Augen selbst schaut. Einige seiner Aussprüche sind
besonders stark in mein bedürftiges Priesterherz eingedrungen. Gewiß
spielte der Klang, mit welchem der Pfarrer von Ars sie aussprach, und
überhaupt seine ganze Gestalt dabei eine nicht unerhebliche Rolle.
Aber auch lange nach diesem Eindruck haben sie nichts von ihrer
Herrlichkeit eingebüßt:
„Wenn wir recht begreifen würden,
was ein Priester auf Erden ist, würden wir sterben: nicht vor
Schreck, sondern aus Liebe. Ohne den Priester wäre das Leiden und
Sterben unseres Herrn sinnlos. Der Priester führt das Werk der
Erlösung auf Erden fort. Was nützte ein Haus, das mit Gold gefüllt
ist, wenn es niemanden gäbe, um die Tür zu öffnen? Der Priester
besitzt die Schlüssel zu den Schätzen des Himmels. Und sogar Gott
gehorcht ihm: Der Priester spricht einige Wörter aus, und daraufhin
steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in der kleinen
Hostie ein. Ja, ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn
nicht. Wer hat Ihn da in den Tabernakel gesetzt? Der Priester. Wer
hat eure Seele beim ersten Eintritt in das Leben aufgenommen? Der
Priester. Wer nährt sie, um ihr die Kraft zu geben, ihre
Pilgerschaft zu vollenden? Der Priester. Wer wird die Seele darauf
vorbereiten, vor Gott zu erscheinen, indem er sie zum letzten Mal im
Blut Jesu Christi wäscht? Der Priester, immer der Priester. – Oh,
wie groß ist der Priester! Wenn er verstünde, was er ist, er würde
sterben. Erst im Himmel wird er sich selbst recht verstehen.“
Und noch dieses wunderbare Wort ist in
mir haften geblieben und hat sowohl Vianney als auch mein eigenes
Dasein und Wirken in ein völlig neues Licht getaucht: „Das
Priestertum, das ist die Liebe des Herzens Jesu.“ Jetzt meinte
ich zu verstehen, warum unser Herr Seinen großen Diener im Studium
derart schwach erscheinen ließ: um durch diesen geringen Mann alles
Hochtrabende und Aufgeblähte zu beschämen und in ihm die Macht der
Liebe Seines Herzens zu offenbaren! Ich hatte auch keine
Schwierigkeiten mehr mit seinen Gestrengheiten gegen sich und gegen
seine Pfarrkinder. Hatte er nicht den Vorläufer und Wegbereiter des
Herrn, Johannes den Täufer, zum Namenspatron? Wie diesem war es
Vianney darum gegangen, alles in seinem eigenen Leben und in den
anvertrauten Seelen zu beseitigen, was sich der Ankunft Jesu
entgegenstellte. Dann aber ließ er unter den Menschen die göttliche
Liebe in einer einzigartigen Weise aufstrahlen. Welche Barmherzigkeit
hat Gott uns durch ihn erwiesen, welche guten Einrichtungen ins Werk
gesetzt – man denke nur an die Providence, das Heim für
arme Mädchen!
Bleibt noch zu erwähnen, daß ich mir
selbstverständlich die Gelegenheit, beim heiligen Pfarrer von Ars zu
beichten, nicht nehmen ließ. Seither bin ich der felsenfesten
Überzeugung: Die Begegnung mit ihm wird für jeden Priester zu einer
große Gnade. (Hier schließt der Bericht des Abbé
N.N.)
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Exerzitien mit dem hl. Pfarrer von Ars
Mit einenm Vorwort von Walter Kardinal BrandmüllerUNA VOCE Edition Tremsbüttel 2014
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Rezension von Pfr. Guido Rodheudt
Rezension von Hans Jakob Bürger
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