Samstag, 7. Juni 2014

„Siehe, Ich mache alles neu!“

Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert. (Joh 20,21-23)

Ein Gastbeitrag von P. Bernward Deneke FSSP, Wigratzbad 

Auf manchen Menschenleben scheint ein böses Fatum zu lasten. Die unberechenbaren Fäden des Schicksals und die Fesseln persönlicher Schuld und Sünde haben sich derart ineinander verwirrt und miteinander verknotet, daß kein Ausweg mehr zu sehen ist. Und selbst wenn der Mensch für sich selbst noch sein „Herr, sei mir Sünder gnädig“ zu sprechen vermöchte: Wie sollten die schlimmen Folgen seiner Taten, die sich von Generation zu Generation fortpflanzen und über die Schwelle der Zeit hinaus in die Ewigkeit reichen, jemals wieder beglichen werden? Kann denn jemand, der andere in den zeitlichen, vielleicht auch den ewigen Tod gerissen hat, die Sache einfach für sich mit seinem Herrgott in Ordnung bringen, so als beträfe sie nur ihn?
Der unvergessliche Pallottinerpater Gerhard Hermes, Gründer und langjähriger Chefredakteur der Zeitschrift „Der Fels“, erzählt in seinem Erinnerungsbuch „Du kommst nach Hause“ (Christiana-Verlag Stein am Rhein 1988) vom Schicksal des jungen Rotarmisten Wolodja. In den letzten Maitagen des Jahres 1945 trifft ihn ein polnischer Priester in einer Kapelle vor dem Bildnis der Schmerzensmutter an, in Tränen aufgelöst und zur Erde gesunken, und vernimmt sein erschütterndes Bekenntnis:
Wolodja hat in seiner ukrainischen Heimat das Mädchen Warka geheim vor Väterchen Grigorij, einem verfolgten katholischen Priester, geheiratet und sie zu sich in das Haus seiner Mutter genommen. Der kommunistische Dorfvorsteher, der dem Geistlichen nach dem Leben trachtet, läßt Warka in ein Soldatenlager bringen und droht Wolodja, seine Frau werde der Garnison übergeben, wenn er nicht aussage, wo sich Väterchen Grigorij verborgenhalte.
Nach Stunden schwerster Seelennot kann Wolodja die Spannung dieser moralischen Zwickmühle schließlich nicht mehr aushalten. Er nennt dem Dorfsowjet das Versteck des geliebten geistlichen Vaters. Seine Frau Warka wird ihm entgegen allen Versprechungen erst am nächsten Morgen zurückgegeben: jämmerlich ist ihr Zustand, die Soldaten haben sie geschändet und dabei fürchterlich zugerichtet. Dennoch sagt sie ihrem Mann, er habe richtig gehandelt, indem er den Priester nicht verraten habe...
Wolodja, von der doppelt schweren Schuld niedergedrückt, lässt sich daraufhin gerne zum Militärdienst nach Polen einziehen, um so der Umgebung zu entfliehen, die zu einem beständigen, lautlosen Vorwurf wider ihn geworden ist. Wenig später erhält er dann einen Brief aus der Heimat: „Wir haben herausbekommen, dass du der Judas bist. Alle verfluchen dich. Warka ist ins Wasser gegangen. Deine Mutter ist gestorben.“ Wolodja ist verzweifelt. In der Absicht, sein Leben zu beenden, begibt er sich auf eine Anhöhe, wo ihn aber eine Stimme in die Kapelle vor das Bildnis der Gottesmutter mit dem schwertdurchbohrten Herzen ruft. Dort findet ihn der Priester. 
Aber was soll er einem Menschen in solcher Lage sagen? Hier scheint jedes Wort hohl, jede Geste der Hilfsbereitschaft peinlich zu sein. Gibt es für einen derart schuldig Gewordenen überhaupt noch einen angemessenen Rat, eine hilfreiche Tat?
Der Priester spricht zu Wolodja: „‘Das ist ihre Stunde, und die Macht der Finsternis. Er ist gekommen über euch - und über uns, der Karfreitag der Christenheit. Du bist durch die Hölle gegangen, Wolodja. Was soll ich dir sagen? Ein neues Herz müsste ich dir geben können. Es ist Einer, der es dir geben wird, und Seine Mutter hält Ihn dir entgegen. Komm, mein Sohn!’ Der Priester legte sich die Stola über die Schultern und beugte den Kopf des starken jungen Menschen nieder an seine Brust, so daß dieser die Schläge seines Herzens hören konnte. Dann sprach er die Worte, vor denen die finsteren Burgen zerbrechen: ‘... ego te absolvo...’ Und er küsste ihn auf beide Wangen.“
Nicht ein menschliches Trostwort, nicht ein Zeichen persönlicher Güte vonseiten des Priesters bringt die Rettung für Wolodja. Wo alles Bemühen, das „aus dem Geblüte, aus dem Willen des Fleisches und aus dem Willen des Mannes“ (Joh 1,13) - ja auch aus den höchsten Regionen des Menschengeistes oder den tiefsten Schatztruhen eines liebevollen Herzens - hervorgeht, rein gar nichts mehr vermag, da bewirkt das Wort des Herrn, gesprochen von Seinem priesterlichen Stellvertreter, das Wunder über alle Wunder und erweckt den Verlorenen zu neuem Leben.
„Kindlein, schenke mir dein Herz“, so wendet sich Gott an den Menschen (Spr 23,26). Und wenn dieser Ihm sein sündenschweres, gnadenleeres Herz in einem aufrichtigen und reuigen Bekenntnis darbietet, nimmt es der Herr an und tauscht es gegen ein neues aus. Er kommt der Sehnsucht entgegen, die in den Bitten des 50. Psalms ihren Ausdruck gefunden hat: „Besprenge mich mit Ysop, und ich werde rein, wasche mich, und ich werde weißer als Schnee! - Ein reines Herz erschaffe in mir, o Gott, und einen geraden Geist erwecke mir neu!“ In alledem zeigt sich, dass der Herr Seinen eigenen Verheißungen treu bleibt, sagt Er doch: „Und wären eure Sünden rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee; und wären sie rot wie Purpur, sie sollen werden wie Wolle.“ (Is 1,18)
Dieser geheimnisvolle, letztlich unfassbare Vorgang ereignet sich in jeder heiligen Beichte. Sie ist das kostbare Ostergeschenk des Auferstandenen an Seine Kirche. Durch sie gibt Er uns in aller Krankheit, ja selbst im Tod unserer Seele neuen Anteil an dem Leben, das Er leidend und sterbend für uns errungen hat. Das große Wort, das der Herr am Weltenende über die gesamte Schöpfung sprechen wird, kann im Bußsakrament schon am einzelnen Menschen Wahrheit werden: „Siehe, Ich mache alles neu.“ (Offb 21,5) Ja, hier ist „das Alte vergangen, siehe, alles ist neu geworden.“ (2 Kor 5,17)
Wer einmal die umwandelnde Kraft des Bußsakramentes an sich und anderen wahrnehmen durfte; wer es erlebt hat, wie aus traurig-trüben Augen wieder der Strahl frohen Lichtes hervorbrach, wie ein in Sünden altgewordener Mensch zum Frühling erneuerter Jugend erwachte, - der wird wenig Verständnis dafür aufbringen können, dass sich die Christenheit der Gegenwart von einer solchen Quelle des Lebens und der Freude abwendet und, anstatt sich am kostenlosen Lebenswasser zu waschen und zu laben, mühevoll Zisternen in wasserloser Wüste gräbt. Ein „verlorenes Sakrament“ ist die Beichte (nach einem Ausspruch Kardinal Höffners) vielerorts im deutschen Sprachraum geworden. Und mit diesem Sakrament ist auch weithin die katholische Lebensfreude, die Frucht der Vergebung und Neuwerdung, verlorengegangen.
„Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.“ Ist aber auch wirklich „alles neu geworden“? Ein letztes Bedenken bleibt vielleicht. Durch die Reue eines König David über seine Sünde wird doch der Feldherr Urias, das Opfer des königlichen Ehebruchs, genauso wenig zum Leben wiedererweckt, wie die harte Buße der heiligen Maria von Ägypten den von ihr Verführten die Unschuld zurückerstattet. Das priesterliche „Ego te absolvo“ über Wolodja lässt weder die Hinrichtung Väterchen Grigorijs noch den Selbstmord Warkas noch auch das frühzeitige, gramvolle Sterben der Mutter ungeschehen sein. Und ebenso bleiben die Nachwirkungen unserer Versündigungen an anderen auch nach der Absolution bestehen: die Schäden verantwortungsloser Erziehung, schlechten Vorbildes, seelischer Verletzungen...
Das ist unzweifelhaft wahr. Und dennoch wird für den, welchen Jesus zu neuem Leben erweckt hat, alles neu. Göttliche Kraft erfüllt ihn und treibt ihn an, die Folgen seiner Missetaten, soweit das möglich ist, wiedergutzumachen. Und dabei fließt der Strom der Gnade ganz gewiss besonders denen reichlich zu, die durch die Sünde getroffen und selbst in eigentlich nicht gewollte Verfehlungen getrieben wurden. So entspricht es der unendlichen Weisheit und Güte Gottes.
Wie das Leben des Rotarmisten Wolodja nach der Beichte weiterging? An einigen Abenden stieg er noch zur „Mutter von Troste“ hinauf, dann wurde er eines Tages nicht mehr gesehen. „Es war am gleichen Tag, an dem ein erstauntes Flüstern die Ortschaft durchlief, wonach ein Russe die Unschuld eines dreizehnjährigen Mädchens beschützt und dabei sein Leben gelassen hatte. Als dem Pfarrer seine Nachforschungen Gewissheit brachten, daß es Wolodja war, der also ritterlich in den Tod gegangen, fühlte er sich nicht wenig getröstet.“
„Siehe, Ich mache alles neu!“


Bild: Cover "Du kommst nach Hause" von Gerhard Hermes; von hier: parvis Verlag

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