Samstag, 28. Juni 2014

Prof. Georg May: Die andere Hierarchie - Teil 40: Fazit: Das Rätesystem

Prof. Dr. Georg May

Die andere Hierarchie


Teil 40


Verlag Franz Schmitt Siegburg AD 1997


Fortsetzung von hier

§ 13  Zusammenfassende Würdigung des Rätesystems

I.  Die Gegen-Struktur

1.  Beraten und Beschließen

Die andere Hierarchie, d.h. das System der Räte und Gremien, ist nun an der göttlichen Verfassung der Kirche zu messen. In den deutschen Diözesen sind auf den Ebenen der Pfarrei, des Dekanates, des Bistums Räte gebildet worden, welche den Laien die Teilhabe an der kirchlichen Sendung ermöglichen sollen.

Diese Gremien sind keineswegs harmlose Versammlungen. "Die Räte sind kirchenamtliche Organe, die zu rechtlichem Handeln im Namen der Kirche befugt sind" (1). Ihre Kompetenz ist sehr ausgedehnt. Der Zuständigkeitsbereich der Räte deckt sich in weitestem Umfang mit jenem der geistlichen Amtsträger. Die Räte haben, anders, als der Name vermuten lässt, nicht bloß beratende, sondern auch beschließende und ausführende Funktionen. Letzteres steht in eindeutigem Widerspruch zum Willen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Aus dem Laiendekret Nr. 26 ergibt sich nirgendwo, dass Räte andere als beratende Funktion haben sollten.

2.  Doppelte Vertretungsrolle

Die Laienräte nehmen eine doppelte Vertretungsbefugnis in Anspruch; nach außen, in die Öffentlichkeit, handeln sie im Namen der ihnen zugeordneten Teilgemeinschaften, z.B. als Sprecher einer Pfarrei, nach innen wollen sie die ihnen zugeordneten Teilgemeinschaften in die jeweils nächsthöhere Einheit einbringen.

In dieser doppelten Vertretungsrolle der Laienräte liegt der Versuch des Aufbaues einer anderen Hierarchie, so dass in der Pfarrei nicht allein der Pfarrer, sondern auch der Pfarrgeminderat und in der Diözese nicht allein der Bischof, sondern auch der Diözesamrat verantwortlicher Vertreter der zugeordneten kirchlichen Teilgemeinschaften sind" (2). Die Folgen solcher Doppelung liegen auf der Hand: Was der eine Vertreter einer kirchlichen Gemeinschaft verlautbart, dem kann der andere Vertreter derselben Gemeinschaft widersprechen. Es kommt dann zu dem Zustand, den wir heute haben.

Für die katholische Kirche in Deutschland sprechen sowohl die Deutsche Bischofskonferenz als auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Für die Diözese sprechen der Diözesanbischof und der Diözesanrat. Für die Pfarrei sprechen der Pfarrer und der Pfarrgemeinderat. Es ist offensichtlich: Man hat den Versuch gemacht, "ein "dyohierarchisches System aufzubauen, das von der Pfarrei über die Diözese bis in den Bereich der Deutschen Bischofskjonferenz reicht" (3).

"Das durch die bischöfliche Gesetzgebung im Bereich der Bundesrepublik Deutschland aufgebaute Rätesystem ist, im Ganzen gesehen, der Versuch des Aufbaus einer anderen Hierarchie, die auf der alsbald nach Abschluss des Konzils aufgekommenen Polarisierung von Amtskirche und Laienkirche aufruht. Sie ist Ausdruck einer Demokratisierung, die mit dem konziliaren Selbstverständnis der Kirche als des neuen Gottesvolkes nicht zu vereinbaren ist" (4).

Auf das Konzil kann man sich bei dieser Konstruktion nicht berufen. "Man darf sicher sein, dass das Konzil mit dem knappen Hinweis auf mögliche andere Räte nicht im Traum daran gedacht hat, dem Aufbau eines Rätesystems das Wort zu reden, das von der Pfarrei als Basis ausgeht, bis in die internationale Ebene reichen und neben dem hierarchischen Strukturgefüge der Kirche stehen soll" (5).


II.  Das protestantische Vorbild

Was hier vorgeht, ist offensichtlich. Die hierarchische Kirche soll in eine presbyterial-synodale umgestaltet werden. Das protestantische Modell des Presbyteriums und der Synode steht Pate bei der Gremienbeflissenheit unserer Zeit. Das Rätesystem ist eine schlechte Kopie des protestantischen Presbyterial- und Synodalprinzips. Schon Mörsdorf wies auf das möglicherweise wirksame protestantische Vorbild hin (6).

Wie sieht der Verfassungsaufbau im Protestantismus aus? Ich gebe einen allgemeinen Überblick. Die zahllosen Unterschiede zwischen den ca. 30 evangelischen Kirchen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bleiben unberücksichtigt. Die protestantische Kirchenverfassung hat sich weitgehend an die weltliche demokratische Ordnung angeglichen. Kennzeichnend sind die presbyterale Organisation der Gemeinde und die Synodalverfassung.

1.  Das Presbyterialsystem

Auf der untersten Ebene steht die Gemeinde. Die protestantische Gemeindeverfassung beruht auf der Vorstellung der Gleichheit aller Kirchenmitglieder; es gibt keine Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Priestertum. Der Protestantismus leugnet radikal die Existenz einer Hierarchie göttlichen Rechtes. Er kennt sur eine kollegiale Organisation.

Das Kollegialorgan vertritt die Kirchengemeinde. Die Geistlichen und die übrigen Kirchenmitglieder wirken daher gleichberechtigt bei der Leitung der Gemeinde mit. In allen Landeskirchen existiert ein Gemeindekirchenrat oder Kirchenvorstand. Dem Kirchengemeinderat oder Gemeindekirchenrat bzw. Kirchenvorstand soder Presbyterium obliegt die Leitung der Gemeinde.

In der Kirchenordnung für Westfalen von 1953 heißt es: "Die Presbyter sind berufen, im Presbyterium in gemeinsamer Verantwortung mit den Pfarrern die Kirchengemeinden zu leiten" (art. 35). Weiter unten: "Die Leitung der Kirchengemeinde liegt beim Presbyterium (art. 54 Abs. 1). Seine Zuständigkeit ist umfassend (Art. 55-56). Darin wirken Laien als Kirchenvorsteher (Älteste) mit dem Pfarrer zusammen. Den Vorsitz hat entweder ein Laie oder der Pfarrer. 

In den  lutherischen Landeskirchen wird stärker die Hilfsfunktion gegenüber dem Amt, in der reformierten mehr die gemeinsame Leitungsaufgabe durch Pfarrer und Älteste betont. Pfarrer und Älteste stehen jedoch stets im Verhältnis der Gleich- bzw. Neben-Ordnung.

Die Ältesten wirken an dem (protestantisch) verstandenen Priester-, Hirten- und Lehramt mit. Der Pfarrer kann Leitungs- und Verwaltungsaufgaben nur im Zusammenwirken mit dem Kirchenvorstand wahrnehmen. 

Die Kircheältesten werden auf Zeit, und zwar regelmäßig durch Wahl, bestellt. Der Wirkungskreis des Kirchenvorstandes ist grundsätzlich umfassend. Er ist für alles zuständig, was die Gemeinde angeht. Er vertritt die Gemeinde in ihren inneren und äußeren Angelegenheiten. Der Gemeindekirchenrat hat vielfach weitgehende Rechte z. B. bei der Besetzung gemiendlicher Stellen. Die Ältesten üben Seelsorge aus (8). Die Ältesten haben lehramtliche Funktionen und wirken verantwortlich bei der Ordnung des Gottesdienstes mit (9).

2.  Das Synodalsystem

Neben dem Presbyterialsystem kennt der Protestantismus ein Synodalsystem, das sich auf mehreren Stufen aufbaut (Kreis-, Provinzial-, Nationalsynode). Zwischen den Gemeinden und den Landeskirchen existieren regionale Gliederungen wie Dekanatsbezirke und Kirchenkreise, denen Synoden zugeordnet sind. Die Synoden haben geistliche und weltliche Mitglieder. Geistliche und die übrigen Kirchenmitglieder wirken in ihnen gleichberschtigt mit. Die Landessynoden besitzen (allein) die gesetzgebende Gewalt.

Dieser Aufbau der protestantischen Religionsverbände ist vom protestantischen Lehrsystem her gesehen, konsequent. Der Protestantismus kennt kein Weihesystem und keine Hierarchie. Die protestantische Ordination besitzt keinen sakramentalen Charakter. Sie begründet keinengeistlichen Sonderstatus, der den Ordinierten aus der Gemeinschaft des allgemeinen Pristertums heraushebt.

In der Ordnung des geistlichen Amtes der evangelischen der evangelischen Kirche in Österreich vom 18. November 1949 heiß0t es klipp und klar: Das geistliche Amt "verleiht keinen unverlierbaren Charakter" (1 Abs. 3) Der Ordinierte ist lediglich von Rechts wegen zur Wahrnehmung bestimmter Dienste an Wort und Sakrament beauftragt.

In manchen Kirchenordnungen der neuesten Zeit ist ausdrücklich bestimmt, dass unter gewissen Umständen auch "nichtordinierte Gemeindemitglieder den Dienst der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und der Sakramentsverwaltung  auch ohne besonderen Auftrag übernehmen" können (Berlin-Brandenburg 1949).

Weil es im Protestantismus keine sakramentale Weihe gibt, kann es in ihm auch Über- und Unterordnung sowie die Unterscheidungen von Befehlenden und Gehorchenden nicht geben. Anordnungen von Gremien und Synoden sind lediglich um der guten Ordnung willen nach Möglichkeit zu beachten, aber sie haben keine Begründung im göttlichen Recht.

Was vom protestantischen Standpunkt aus legitim ist, muss, wenn man es auf die katholische Kirche überträgt, aus der Sicht des katholischen Glaubens als Abfall und Verkehrung gekennzeichnet werden. Änderungen in der Ordnung und im Recht besitzen in der katholischen Kirche dogmatische Relevanz. Wenn sich die Disziplin wandelt, wird die Verkehrung des Dogmas vorbereitet. Ein hierarchisches Ordnungsgefüge göttlichen Rechtes ist ohne Gehorsamsverpflichtung nicht denkbar.


(1)  Mörsdorf, Die andere Hierarchie 462
(2)  Mörsdorf, Die andere Hierarchie 477
(3)  Mörsdorf, Die andere Hierarchie 478
(4)  Mörsdorf, Das konziliare Verständnis 401
(5)  Mörsdorf, Das konziliare Verständnis 400f
(6)  Mörsdorf, Die andere Hierarchie479
(7)  Wendt, das Ältestenamt 99
(8)  Wendt, das Ältestenamt 99
(9)  Wendt, das Ältestenamt100

Anm.: Hervorhebung durch Fettdruck von FW

Fortsetzung folgt

Übersicht: Zu den bisher erschienenen Fortsetzungen 

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