Gott ist die Liebe;
wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott
und Gott bleibt in ihm. (1 Joh 4,16)
Wer sollte uns trennen von der Liebe Christi? (Röm 8,35)
Stark wie der Tod ist die Liebe. (Hohes Lied 7,6)
Des Herrn irdische Laufbahn neigt sich zum Ende. Er muss hinaufgehen nach Jerusalem, um dort viel zu leiden. Auch für Mariens Opferkraft kommt nun bald die letzte Prüfung. Vor dem letzten Gang nach Jerusalem hat der Herr wohl Abschied genommen von seiner Mutter. Wie groß der Trennungsschmerz der heiligsten Mutter um ihr göttliches Kind gewesen ist, lässt sich nur schwer ermessen an der Größe der Liebe, die beide miteinander verbindet. Es möchte Kindesliebe der Mutter den Anblick des Leidens ersparen, - der Heiland nimmt vorher Abschied, - aber die Mutterliebe mag das Kind nicht allein lassen in seinem Leiden.
Die Mutterliebe führt Maria hinauf nach Jerusalem, führt sie unter das Kreuz. Nichts bleibt da der Mutter erspart. Sie muss all das Leid sehen, mit dem man ihr Kind quält, muss Hammerschläge hören, mit denen man seine Hände und Füße ans Kreuz heftet, muss still duldend unter dem Kreuzesbalken stehen.
Wenn sie auch hundertmal hätte rufen wollen: "Nehmt mich statt Seiner", es hätte nichts genützt. Maria muss die letzte Entsagung, das größte Opfer bringen, das je von ihr verlangt worden ist: sie muss vollständig verzichten auf ihr schuldloses, heiliges, göttliches Kind. Still und ergeben hat sie auch dieses Opfer gebracht.
Woher schöpfte Maria die Kraft für dieses Opfer? Die Quelle dieser Kraft ist eine Liebe, die alle irdische Liebe, selbst Mutterliebe, übersteigt. Es ist die vollkommene Liebe zu Gott. Diese Liebe macht die Seele eins mit Gott, vollkommen eins im Wollen, Denken und Fühlen. Die Seele, die Gott wahrhaft liebt, kennt und will nichts anderes als einzig den Willen Gottes.
Maria aber weiß um den Willen Gottes, des Vaters, dass der Sohn Gottes leiden und sich hinopfern soll als Sühnopfer für die Menschen. Mutterliebe möchte dem Kinde alles Leid ersparen, - Gottesliebe macht Maria bereit, standhaft unter dem Kreuze zu stehen, mutig und kraftvoll alles hinzugeben gemäß dem Willen des Vaters.
Die Gottesliebe macht Maria auch vollkommen eins in der Gesinnung mit dem leidenden Christus, so dass sie seine Opfergesinnung, seinen Opferwillen teilt. Was Christus dem Vater darbringt als Opfergabe, - sich selbst, - das gibt auch Maria freiwillig in die Hände des Vaters zurück: Christus, den Herrn, - ihr Kind. Da ist kein Widerstreit in ihrem Herzen zwischen Mutterliebe und Gottesliebe. In voller Einmütigkeit mag sie mit ihrem Kinde zum Vater rufen: "In deine Hände empfehle ich seinen Geist."
O Gottesliebe, wie soll ich dich begreifen in deinem Wirken! Alles vermag der Mensch, wenn er nur Gott vollkommen liebt. "Stark wie der Tod ist die Liebe."
Nun komm, meine Seele und stell dich zu Maria unter das Kreuz. Bewundere ihre Liebe! Bewundern? Nicht nur das: suche ihre Liebe deinen Kräften gemäß nachzuahmen. Für jeden Menschen gilt nämlich das Gebot: "Du sollst Gott den Herrn lieben aus deinem ganzen Herzen..." Das heißt auch für dich, dass du dich bemühen sollst, mit Gott eins zu werden in der Gesinnung bis zur vollkommenen Hingabe deiner selbst an ihn und seinen Willen.
Durch die Vereinigung mit Gott in der vollkommenen Liebe ist eine wahre göttliche Gesinnung in dir. Diese Gesinnung, diese Liebe drängt dich, alle Vollkommenheiten Gottes in möglichst hohem Maße an dir zu verwirklichen. Weil Gott, mit dem du durch die Liebe vereint bist, heilig ist, willst auch du heilig sein. Darum willst du lieber auf alle Erdendinge verzichten, als durch die Sünde eine Trennung von Gott zu dulden; so stark ist die Liebe.
Das ist die Liebe, die da geht über alles, von der der Apostel Paulus spricht: "Wenn ich mit Engel- und Menschenzungen redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich wie eine klingende Schelle... Und wenn ich allen Glauben hätte, so dass ich Berge versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts."
Wir beten ein Ave Maria, dass wir wie Maria Gott über alles lieben:
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mit dir!
Du bist gebenedeit unter den Frauen
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes: Jesus!
Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder,
jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
Gib, o Mutter, Quell der Liebe,
dass ich mich mit dir betrübe,
dass ich fühl die Schmerzen dein;
dass mein Herz von Lieb' entbrenne,
Nur nach Jesus ich mich sehne,
dass ich liebe Gott allein.
(Sequenz zum Fest der sieben Schmerzen Mariens)
Gebet:
O Gott der Liebe! Um der Liebe deines Sohnes und seiner heiligsten Mutter willen: verleihe uns die Gnade, dich über alles vollkommen zu lieben. Durch denselben Christus, unsern Herrn. Amen.
Maiandachtsbüchlein für Kirche und Haus von Pfarrer Joseph Willmes;
A. Laumannsche Verlagsbuchhandlung Dülmen /Westf.; AD 1935; S. 56-59 (mit kleinen Änderungen); (s. Quellen)
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