In welchen Situationen kann ich überhaupt barmherzig sein?
Es gibt zwei Hauptrichtungen der Barmherzigkeit. Einmal wendet sich die Barmherzigkeit den Menschen zu, an die wir irgendeinen berechtigten Anspruch haben, sei es, dass sie uns Geld schulden oder dass sie uns eine Genugtuung schuldig sind, sei es, dass sie uns ein Unrecht zugefügt haben.
Ferner gilt sie Menschen, die sich im Elend befindnen und denen gegenüber wir keine spezielle Verpflichtung haben, sei es eine solche, wie sie aus einem Amt, im weiteren Sinne des Wortes, entspringt, sei es eine, die aus dem "Logos" einer besonderen Beziehung erwächst. Sie gilt z. B. einem fremden Menschen gegenüber, der schwer verwundet ist oder unter großer Armut leidet oder von allen verachtet und geächtet ist.
Barmherzigkeit gegenüber eigenen Schuldnern
Wenden wir uns zunächst dem ersten Typus zu.
Die Barmherzigkeit schließt hier den Verzicht auf ein gutes eigenes Recht ein. Sie geht über den Maßstab der Gerechtigkeit hinaus, insofern es sich um die eigene Person handelt. Wenn wir hingegen z. B. als Schiedsrichter über die Rechtslage zwischen anderen Personen zu entscheiden haben, dürfen wir nicht über den Maßstab der Gerechtigkeit hinausgehen.
Wir dürfen nicht einfach dem im Elend Befindlichen die Schuld erlassen, die er einem nicht im Elend Befindlichen schuldet. Wir können die besonderen Umstände berücksichtigen, wir können dem Gläubiger zureden, barmherzig zu sein, sind aber nicht in der Situation, die es gestattet, Gnade für Recht ergehen zu lassen.
Wenn wir dagegen selbst die Gläubiger sind, kommt für uns Barmherzigkeit in Frage. Es ist aber auch hier weder gesagt, dass die Erlassung stets echte Barmherzigkeit, noch dass sie stets das Richtige ist.
Erstens muss es sich um die Schuld eines Armen handeln, wir müssen nicht nur in Bezug auf die Rechtslage, sondern auch im Übrigen in der stärkeren Position sein. Einem Reichen die Schuld zu erlassen, hat offenbar nichts mit Barmherzigkeit zu tun. Die "miseria" darf hier nicht nur in der schwachen Position bestehen, in der der andere durch seine Schuld bei mir geraten ist, sondern sie muss auch sonst seiner Lage anhaften.
Zweitens darf der Schuldner durch meinen Nachlass keinen moralischen Schaden erleiden. Es gibt Fälle, in denen Menschen auf unsere Großmut spekulieren. Dann bedeutet unser Entgegenkommen eine Bestärkung ihrer schlechten Gesinnung. Unsere Strenge kann hier für den anderen eine heilsame Erfahrung sein. In solchen Fällen wäre ein Nachlassen keine echte Barmherzigkeit, sondern eine Weichherzigkeit, ein Schwachwerden.
Hier gilt es, die Barmherzigkeit scharf von vielen Haltungen zu unterscheiden, die, ohne mit ihr irgendwelche innere Verwandtschaft zu haben, von einem oberflächlichen Betrachter doch mit ihr verwechselt werden können.
Haltungen, die mit echter Barmherzigkeit verwechselt werden können
Schwäche statt Liebe
Es gibt Menschen, die zu schwach sind, ihr Recht zu verteidigen. Sie scheuen jede Auseinandersetzung, jede Form des Widerstandes, sie fühlen sich keinem Konflikt gewachsen. Mag es bei den einen mehr Furchtsamkeit, bei den anderen mehr Hilflosigkeit, wieder bei anderen mehr Trägheit sein - immer ist der Verzicht auf ein Recht bei diesen Menschen kein Ausfluß der Liebe, sondern der Schwäche. Nicht aus Mitleid mit dem anderen scheut man die Verteidigung des eigenen Rechtes, sondern um der Unannehmlichkeit aus dem Wege zu gehen, die jedes energische Auftreten für uns mit sich bringt.
Solche Menschen verzichten lieber auf vieles, sie nehmen lieber große materielle oder moralische Opfer auf sich, als dass sie irgendeinen Kampf ausfechten wollten. Sie fühlen sich sofort in der schwächeren Position, wenn sie irgendetwas fordern sollen, weil sie jeden Konflikt scheuen. Der Gegensatz zur Barmherzigkeit liegt auf der Hand.
Verantwortungslose Mitleidigkeit
Aber auch die Menschen, die aus einem sogenannten "weichen" Herzen hreaus nichts abschlagen und einem anderen Menschen nichts Unangenehmes auferlegen können, sind durchaus nicht barmherzig.
Sie stehen nicht über der Situation, sie gehen nicht von der letzten Liebe aus, die vor allem das Heil des anderen sucht, sondern werden "schwach" aus Mitleid; sie sind der Situation nicht gewachsen, indem sie das Mitleid nur auf den gegenwärtigen Augenblick ausdehnen und nicht an den anderen Menschen im Ganzen denken.
Es ist ein ungeordnetes Mitleid, das nicht aus der Konfrontation mit Gott und seinem heiligen Willen erwächst und im Gegensatz zu der spezifisch von Gott und seiner Liebe ausgehenden Barmherzigkeit uns ganz in den Bann der momentanen Situation zieht und uns rein dynamisch erliegen lässt. Es ist das Mitleid der Krankenschwester, die dem zu entwöhnenden Morphiumsüchtigen die Spritze heimlich zusteckt.
Edle Zurückhaltung, aber keine Liebe zum anderen
Endlich gibt es auch Menschen, die sich aus einer edlen Veranlagung heraus, aus einer angeborenen Großmut, schämen, ihr eigenes Recht geltend zu machen. Sie fühlen sich unwohl dabei, wenn sie von ihrer stärkeren Position als Vorgesetzter, als Gläubiger, als Beleidigter Gebrauch machen sollen.
So versäumen sie die Pflicht, anderen Vorwürfe zu machen, von anderen etwas zu fordern, auch wenn es für die anderen heilsam ist. Das ist keine Barmherzigkeit. Denn diese fließt rein aus der letzten Liebe, der gerade das Heil des anderen im Vordergrund steht, ohne Rücksicht darauf, ob es einem selbst natürlich leicht oder schwer fällt, sein Recht geltend zu machen.
Der Barmherzige tritt ja gerade in der Teilnahme an der Liebe Gottes aus dem Standort der eigenen Natur heraus, die verengte Betrachtung der Situation, die entsteht, wenn wir alles nur mit den eigenen Augen ansehen, wird gesprengt, und die natürliche Tendenz, wie immer sie sei, spielt dabei keine Rolle mehr.
Echte Barmherzigkeit
Die Barmherzigkeit wird aber daher auf das eigene Recht verzichten, wenn dem Schuldner kein seelischer Schaden daraus erwächst. Auch der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn eilt ja dem Sohn erst in Liebe entgegen, als der Sohn reuig zu ihm zurückkehrt, also nachdem das durch sein Verschulden über ihn hereingebrochene Unglück ihn zur Besinnung und Umkehr gebracht hat. Hätte er ihn irgendwie unterstützt, sobald er sein Vermögen aufgezehrt, so wäre der Sohn nicht zur Besinnung gekommen und nur in seinem sündigen Lebenswandel bestärkt worden.
Der Barmherzige wird nie, wie der aus Schwäche Mitleidige, der Führung Gottes dadurch gleichsam "in den Rücken fallen", dass er ohne Rücksicht auf den Seelenzustand des anderen Gnade vor Recht ergehen lässt.
Teil 1, 2, 4, 5
aus: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke X - Die Umgestaltung in Christus; Verlag Josef Habbel Regensburg/ W. Kohlhammer Stuttgart; AD 1971; S.291-294; (s. Quellen)
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name!
Dein Reich komme,
Dein Wille geschehe:
wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute
und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Amen.
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