Dienstag, 25. März 2014

DvH 5: Barmherzigkeit

Fortsetzung von hier (4. Teil)

5. und letzter Teil

Weitere Antithesen zur Barmherzigkeit

Der pharisäische Typus

Endlich bietet die Haltung dessen einen spezifischen Gegensatz zur Barmherzigkeit, der alle sittlichen Verpflichtungen nur so weit anerkennt, als sie irgendwie juridisch fassbar sind. Er wird sich um einen Menschen, der seiner Obhut formell anvertraut ist, vielleicht mit großem Eifer bekümmern, der ihm nicht Anvertraute existiert hingegen nicht für ihn. Es ist der korrekte Typus, der vor seinem eigenen Gewissen als tadellos dasthehen will, der sich sonnt im Bewusstsein, alles, was man nach strengen Maßstäben einer legalen Gerechtigkeit verlangen kann, erfüllt zu haben.

Aber dies genügt ihm vollauf. So weit und keinen Schritt weiter. Er hat kein wirkliches Interesse an der Verwirklichung eines Wertvollen, keine wirkliche Liebe zum Nächsten, sondern nur das im Grunde hochmütige Interesse, seine Pflicht erfüllt zu haben, vor sich selbst als korrekt dazustehen. Wenn er einen Fremden im Elend sieht, wird er sagen: "Das geht mich nichts an, ich habe es ja nicht übernommen, für ihn zu sorgen." Ja, er wird einen Menschen neben sich ruhig ins Verderben rennen lassen, ohne einzugreifen, mit der Begründung: "Ja, hätte man mir die Sorge um ihn anvertraut, dann wäre es nicht so weit gekommen." Er wird nie eine Schuld nachlassen, fühlt er sich doch im Recht. Und wer kann von ihm verlangen, dass er auf sein gutes Recht verzichte?

 Der bürokratische Typus

Neben diesem pharisäischen Typus, der im Grunde nur für seine eigene Korrektheit interessiert ist und nie für einen Wert als solchen oder für das Wohl eines anderen Menschen, gibt es noch den Menschen, der ohne Selbstgefälligkeit so in die reine Rechtskategorie verliebt ist, dass er für ein Hinausgehen über das rechtlich Gebotene kein Verständnis hat.

Es ist dies der kühle, bürokratische Typus, der alles, soweit es rechtlich verpflichtend ist, mit größter Hingabe erfüllt, aber nie darüber hinausgeht. Er stellt von vornherein nur die Frage: "Gehört dies zu meinen formellen Verpflichtungen?" - und er wird auch nie wegen des Elends eines anderen auf ein Recht verzichten, weil er sich nicht dazu verpflichtet fühlt. Es ist die Haltung, die in dem Sprichwort "summum ius, summa iniuria", "höchstes Recht, höchste Ungerechtigkeit" ihren Ausdruck findet.

Der Barmherzige ist großmütig, sieht alles in Gott und ist selber frei

Der Barmherzige überspannt nicht den Unterschied zwischen dem, was streng verpflichtend und dem, was nicht streng verpflichtend ist. Nicht als ob er die Verpflichtungen nicht ganz ernst nähme; aber sie stellen in keiner Weise eine Grenze dar für seine Zuwendung.

Die Barmherzigkeit findet sich nur bei denen, die alles "in conspectu Dei" sehen, die in voller Wachheit alles mit übernatürlichen Maßstäben betrachten. Sie setzt ferner eine innere Gelöstheit voraus, ein Aufgeschmolzensein unseres Herzens.

Jede Narbe, jede Verhärtung infolge eines Erlebnisses, das wir nicht vor Gott geordnet haben, unterbindet das Strömen der Barmherzigkeit.  Ja alle Art der inneren Unfreiheit - z. B. das Befangensein in Angst oder im Ekel oder in einer Kränkung oder Beleidigung oder in einer zu großen Präokkupation - bildet ein Hindernis für die Barmherzigkeit. Denn jede Unfreiheit macht uns befangen und raubt uns jenes "Über-der-Situation-Stehen", das von der Barmherzigkeit vorausgesetzt wird.

Nur derjenige, der jene übernatürliche Souveränität erlangt hat, die aus der wahren Freiheit fließt, die den auszeichnet, der nur das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit sucht, der nichts von der eigenen Kraft, sondern alles von Gott erwartet, kann an dieser spezifisch göttlichen Tugend der Barmherzigkeit teilhaben.

Nur derjenige, bei dem die engen Grenzen des Eigenlebens gesprengt sind und der aus Christus lebt in jener restlosen Geöffnetheit und Wachheit, kann wirklich auf die fremde "miseria" eingehen und über alles Mitleid hinaus jenen Gestus der gütigen, sich herabneigenden Liebe vollziehen, die den im Elend Befindlichen einen Hauch von der Liebe Gottes verspüren lässt und ihn aus seinem Elend emporzieht.

Nur der Demütige kann Barmherzigkeit üben

"De stercore erigens pauperem: ut collocet eum cum principibus, cum principibus populi sui", "den Armen hebt er aus dem Kot: um ihn zu setzen neben Fürsten und neben Edle seines Volkes" (Ps 112,7). Und diese heilige Souveränität setzt zutiefst die Demut voraus. Nur der Demütige ist wirklich aufgeschmolzen und frei von jeglicher Verhärtung.

Die generelle Bedeutung, die die Demut als Voraussetzung für die Teilhabe am göttlichen Leben besitzt, offenbart sich hier in besonderer Weise. Diese höchste geschöpfliche Tugend ist das unerlässliche Fundament dafür, dass wir an jener spezifisch göttlichen Tugend teilhaben dürfen. Wir müssen uns selbst absterben, damit die Barmherzigkeit Christi uns erfüllen kann. Wir müssen mit dem hl. Johannes dem Täufer sprechen: "Ille autem opportet crescere, me autem minui", "Er muss wachsen, ich aber abnehmen" (Joh 3,30).

Die Barmherzigkeit ist eine spezifisch übernatürliche Tugend, die nur bei dem erblühen kann, der aus Christus lebt. Sie ist darum wie kaum eine andere Tugend ein untrügliches Stigma des Lebens aus Christus. Die Frage, ob wir barmherzig waren, muss darum in unserer Gewissenserforschung eine entscheidende Rolle spielen. Wie viele Gelegenheiten zur Barmherzigkeit versäumen wir, wie oft gehen wir, wie der Pharisäer, vorüber an dem Verwundeten, befangen in unseren Angelegenheiten, begrenzt durch unsere Unfreiheit!

Und doch müssten wir dieser Tugend am meisten eingedenk sein, von der wir ja stündlich leben. Wir leben von der Barmherzigkeit Gottes, sie durchsetzt unser ganzes Leben, sie ist die Ur-Wahrheit, auf der das ganze Sein des Christen ruht.

"Quoniam in aeternum misericordia eius", "denn ewig währet seine Barmherzigkeit" (Ps 135,1). Ja, das Licht, von dem der Psalmist sagt: "Signatum est super nos lumen vultus tui, Domine", "das Licht Deines Antlitzes ist wie ein Zeichen aufgerichtet über uns" (Ps 4,7), ist die Barmherzigkeit dessen, der "seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt" und der "seines eigenen Sohnes nicht schonte", um uns zu erlösen.

Der Weg, barmherzig zu sein

Der Weg, barmherzig zu werden, ist das ständige Bewusstsein, dass wir von Barmherzigkeit umgeben sind, dass sie die Luft ist, die wir als Kinder Gottes atmen. Die Barmherzigkeit dessen, von dem die Kirche sagt: "In caritate perpetua dilexit nos Deus, ideo, exaltatus a terra, attraxit nos ad Cor suum, miserans", "mit ewiger Liebe liebte uns der Herr, daher zog er uns, erhöht von der Erde, an sein Herz, voll Erbarmung" (Offizium vom heiligsten Herzen Jesu), muss unser Herz durchbohren und umwandeln, muss uns in den Bannkreis seiner alles durchbrechenden, alle Ketten sprengenden sanften Gewalt ziehen, vor der alle Maßstäbe der Welt zerbrechen.

Denn nur in dem Maß, als wir selbst barmherzig werden, können wir auch die Früchte seiner Barmherzigkeit ernten, können wir das letzte Wort seiner Barmherzigkeit einst verkosten, "das kein Auge gesehen und kein Ohr vernommen hat und das in keines Menschen Seele gedrungen ist" (1 Kor 2,8), gemäß dem Wort des Paternoster: Dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris", "vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern."


Beati misericordes: quoniam ipsi misericordiam consequentur.
Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

 
(Zwischenüberschriften eingefügt von FW)

Teil 1, 2, 3, 4


aus: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke X - Die Umgestaltung in Christus; Verlag Josef Habbel Regensburg/ W. Kohlhammer Stuttgart; AD 1971; S.296-298;  (s. Quellen)



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