Jeder, der Christus zu lieben beginnt, macht eine merkwürdige Erfahrung: Je mehr er geben will, um so mehr erfährt er sich als der Beschenkte. Je mehr er Christus lieben will, um so mehr erkennt er, wie gering und erbärmlich seine Liebe ist, und gleichzeitig erfährt er, dass Christus ihn trotzdem liebt.
Gerade das macht das Beglückende an seiner Liebe aus. Ich erkenne, wie wenig ich seine Liebe verdiene und wie ich trotzdem von Ihm geliebt werde. Christus schenkt mir seine Liebe, weil Er so gut ist, nicht weil ich es bin. Je mehr meine Not wächst angesichts meiner Unfähigkeit, Ihn zu lieben, um so mehr wächst meine Seligkeit angesichts seiner Beharrlichkeit, mich immer weiter zu lieben. Je mehr ich meine Armut erkenne und anerkenne, um so mehr werde ich von Ihm beschenkt und reich gemacht.
Der hl. Vinzenz Pallotti schreibt:
"Nichts und Sünde ist mein ganzer Reichtum, Nichts und Sünde ist mein ganzes Leben. Aber durch die Liebe Gottes und seine große Barmherzigkeit ist das ganze Leben unseres Herrn Jesus Christus mein Leben."
Es ist etwas anderes, auf diese Weise die Liebe Gottes zu erfahren, und etwas anderes, sich auf die Liebe Gottes zu berufen, um im Sündigen fortfahren zu können. Bei näherem Zusehen stellt sich im letzten Fall diese Liebe als ein Zerrbild der Liebe Gottes heraus. Dieselbe besteht nicht mehr darin, unsere Sünden zu verzeihen und uns aus unserer Not zu erlösen, sondern die Sünden zu verharmlosen und uns in unsrer Not zu belassen.
Wer mit Berufung auf die Liebe Gottes z.B. die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten fordert, kann unmöglich dieser Liebe im Blick des Herrn einmal begegnet sein. Er beruft sich zwar auf die Liebe Gottes, aber wie auf eine Instanz, die ihm fremd geblieben ist und die er niemals erfahren hat. Die Liebe kann niemals ja sagen zur Sünde. Wer der Liebe des Herrn begegnet, erfährt sie auch als solche, die nichts Unheiliges in ihrer Nähe dulden kann, die höchste Reinheit der Seele fordert.
Die Liebe Christi ist gleichzeitig verzeihend und fordernd, zärtlich einladend und streng gebietend, unendlich sanft und überraschend stark. Das sind nur scheinbare Gegensätze. Wer die verzeihende Liebe des Herrn erfahren hat, weiß, wie unwiderstehlich in ihm der Drang entsteht, diese Liebe mit Gegenliebe zu beantworten. Je sanfter die erfahrene Liebe, um so stärker dieser Drang; je beseligender die Erfahrung ihrer Milde, um so quälender das Wissen um die eigene Unfähigkeit, Christus so zu lieben, wie er es eigentlich verdient.
P. Engelbert Recktenwald in "Jesus Christus - Einige Gedanken über die Gretchenfrage unseres Glaubens"; AD 1999 , S. 11-13 (s. Quellen)
Bild: Der Apostel Johannes an der Brust des Herrn (Heiligkreuztaler Johannesminne); wikipedia
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