Von Josef Pieper
Thomas von Aquin, der große Magister der abendländischen Christenheit, hat sich dafür entschieden, das christliche Menschenbild in sieben Thesen auszusprechen, die man folgendermaßen wiedergeben kann:
Erstens: der Christ ist ein Mensch, der - im Glauben - der Wirklichkeit des dreieinigen Gottes inne wird.
Zweitens: der Christ spannt sich - in der Hoffnung - auf die endgültige Erfüllung seines Wesens im Ewigen Leben.
Drittens: der Christ richtet sich - in der göttlichen Tugend der Liebe - mit einer alle natürliche Liebeskraft übersteigenden Bejahung auf Gott und den Mitmenschen.
Viertens: der Christ ist klug, das heißt, er lässt sich den Blick für die Wirklichkeit nicht trüben durch das Ja oder nein des Willens, sondern er macht das Ja oder Nein des Willens abhängig von der Wahrheit der wirklichen Dinge.
Fünftens: der Christ ist gerecht, das heißt, er vermag in Wahrheit "mit dem andern" zu leben, er weiß sich als Glied unter Gliedern in der Kirche, im Volk und in aller Gemeinschaft.
Sechstens: der Christ ist tapfer, das heißt, er ist bereit, für die Wahrheit und für die Verwirklichung der Gerechtigkeit Verwundungen und, wenn es sein muss, den Tod hinzunehmen.
Siebentens: der Christ hält Maß, das heißt, er lässt es nicht zu, dass sein Haben-wollen und sein Genießen-wollen zerstörerisch und wesenswidrig wird.
Diese sieben Thesen bedeuten, dass die Ethik der klassischen Theologie als Darlegung des Menschenbildes wesentlich Tugendlehre ist, näherhin: dass sie das Schrift-Wort von der Vollkommenheit des Christen interpretiert durch das siebenfältige Bild der drei göttlichen und der vier Kardinaltugenden.
Es ist, glaube ich, eine nicht unwichtige Bemühung, dieses großgeartete, aber vielfach verblasste und, noch schlimmer, vielfach übermalte Fresko des Menschenbildes der klassischen Theologie dem Gemeinbewusstsein unserer Zeit wieder in seiner ursprünglichen Gestalt vor Augen zu bringen.
Nicht um eines "historischen Interesses" willen, nicht um festzustellen und zu zeigen, "wie es eigentlich gewesen ist", sondern: weil diese Interpretation des letzten menschlichen Richtbildes nicht nur gültig geblieben ist, sondern weil es, wie ich glaube, gradezu lebensnotwendig für uns ist, dieses Menschenbild wieder klar zu sehen und zu bejahen.
Josef Pieper in: "Über das christl. Menschenbild"; Verlag Jakob Hegner Leipzig; S. 13 ff
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