Das Wort „Selbstbespiegelung“ hat unter gläubigen Katholiken zumeist keinen guten Klang. Zu sehr erinnert es an die eitel-selbstverliebte Frage von Schneewittchens Schwiegermutter: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ Als abstoßend empfinden fromme Menschen das ganze Getue um die eigene Person, das auch im Innenraum der Kirche um sich gegriffen hat. Zumeist handelt es sich dabei um ein Gebräu aus Elementen der modernen Imageberatung und spirituellen, psychologischen und esoterischen Beigaben. Etwas biblische Weisheit, ein Schuss Yoga-Meditation, ein Hauch Tiefenpsychologie und das unvermeidliche Enneagramm sollen helfen, sich selbst zu erkennen und zu erfahren; sich so anzunehmen, wie man ist; zu sich selbst, zu seinen Licht- und Schattenseiten zu stehen – und so weiter und so fort.
Das alles ist den Gläubigen konservativer Prägung reichlich suspekt. Und doch sollten auch sie sich in ihrem religiösen Leben eines Spiegels bedienen. Gewiss nicht aus narzisstischem Antrieb oder um sich ein neues Selbstwertgefühl zuzulegen, sondern aus gegenteiligen Beweggründen: um ichbezogene Illusionen zu zerstreuen und so im Licht Gottes zu wahrhaftigster Selbsterkenntnis zu gelangen. Solches In-den-Spiegel-Schauen mündet also nicht in hohlen Selbstruhm, sondern in ein demütiges Schuldbekenntnis.
Schon immer haben die Christen dafür verschiedene Hilfsmittel benutzt. Man kann zwei Wege unterscheiden, die zur rechten Selbsterkenntnis führen sollen. Der eine ist mehr negativ bestimmt; er geht von den einzelnen Geboten aus und bedenkt die verschiedenen Sünden, mit denen wir sie übertreten. Hierbei leisten neben dem mosaischen Dekalog die „Lasterkataloge“ der paulinischen Briefe wertvolle Dienste. Sie zählen die vielfältigen Laster und Verkehrtheiten auf: „Ungerechtigkeit, Bosheit, Habgier ... erfinderisch im Bösen, unbotmäßig gegen die Eltern ...“ (Röm 1,29-31), stellen die „Werke des Fleisches“ (nämlich „Unzucht, Unlauterkeit ... Feindschaft, Zank, Eifersucht ... Trunkenheit, Schlemmerei und dergleichen“) den „Früchten des Geistes“ gegenüber (Gal 5,19-23) und zeigen die Konsequenzen auf: „Weder Unzüchtige noch Götzendiener usw. werden Anteil haben am Reiche Gottes“ (1 Kor 6,9f.). Findet man in alledem nicht wahrlich genug Anhaltspunkte, die eigene religiös-sittliche Physiognomie zu erforschen?
Allerdings ist die paulinische Aneinanderreihung der Verfehlungen nicht sonderlich einprägsam. Daher war die christliche Tradition schon früh bestrebt, die Selbstprüfung zu vereinfachen. Als hilfreiche „Checkliste“ diente neben den 10 Geboten recht bald schon die Aufzählung der Sieben Haupt- oder Wurzelsünden: Hoffart, Neid, Zorn, Geiz, Unzucht, Unmäßigkeit und Trägheit. Die Beichtspiegel in der uns bekannten Form sind dann nur noch eine weitere Entwicklungsstufe. Seit dem Aufkommen der Buchdruckerkunst wurden sie, teilweise sehr anschaulich illustriert, in Form von Büchern und Flugzetteln unter das Volk gebracht und an die Wände der Beichtstätten geheftet. Keinem Christen, ob hoch- oder ungebildet, sollte es an der Möglichkeit fehlen, sich der notwendigen Selbstbespiegelung zu unterziehen. Und so ist es bis in die jüngste Vergangenheit geblieben.
Neben diesem negativen Weg gibt es noch einen zweiten, mehr positiv ausgerichteten. Anders als jener betrachtet er die Bibel nicht in erster Linie als Gesetzbuch, sondern als einen großen Spiegel, in dem gemeinsam mit Gottes Glorie auch die ursprüngliche Würde und Schönheit des Menschen aufstrahlt, die im menschgewordenen Gottessohn Jesus Christus ihre Vollendung erreicht. Wer sich vor dem Antlitz des Erlösers betrachtet, der wird zugleich mit dem Staunen über solche Herrlichkeit zu der schmerzlichen Einsicht gelangen, wie weit er selbst noch hinter dem Adel eines Gotteskindes zurückbleibt. Die heilige Mechthild von Hackeborn (1241-1299) hat diese Methode der Gewissenserforschung, die Jesus selbst als „Beichtspiegel“ benutzt, beschrieben: „Ferner soll der Mensch, bevor er beichtet, das Gesicht seiner Seele im Spiegel der Vorzüge Christi betrachten. Im Spiegel der Erniedrigung betrachte er also achtsam seine Demut, ob er sie durch Hochmut und Hochfahrenheit verletzt habe. Im Spiegel der Geduld Christi erprobe er seine Geduld ...“ – und in diesem Sinne fährt Mechthild fort.
Dass sich allerdings auch in dieses Verfahren Subjektivismen verschiedenster Art einschleichen können, ein realitätsfernes Wunschdenken voller Einbildungen und Verdrängungen etwa, liegt auf der Hand; denn allzu sehr ist auch der fromme Mensch geneigt, sich seinen Spiegel so zurechtzubiegen, wie es ihm gerade passt. Daher müssen beide Weisen der Gewissenserforschung miteinander verbunden werden: der schlichte, liebende Blick auf die Höhe unserer Berufung in Jesus Christus und die ernsthafte Prüfung anhand der Gebote und Sünden.
Genau das ist die authentisch-christliche Antwort auf die Selbstbespiegelung unserer egomanischen Zeit.
- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS)
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