Samstag, 16. Februar 2013

Passionsfrömmigkeit

Von P. Bernward Deneke FSSP, Wigratzbad 

Nein, dass die Betrachtung der Passion Jesu heutzutage „in“ sei, das wird niemand behaupten wollen. Aber war sie es denn jemals? Sind wir Menschen nicht seit eh und je mehr dem Angenehmen als dem Unangenehmen, mehr dem Attraktiven als dem Unansehnlichen zugeneigt? Der erniedrigte, verwundete, besudelte, am Kreuz ausgespannte Leib des Herrn bietet wahrlich kein erfreuliches Bild. Da rückt man sich doch lieber etwas Erbaulicheres vor das geistige Auge oder folgt dem Rat östlich inspirierter Priestergurus, die uns ins Nichts zu starren lehren; denn der Betrachtung eines gemarterten und hingerichteten Mannes ist eine solche „gegenstandslose Meditation“ doch allemal vorzuziehen. 

Und dennoch hat es bis vor nicht langer Zeit unter Christen den Drang gegeben, sich über solche naturhaften Befindlichkeiten zu erheben. Kirchlicherseits wurde damals vieles unternommen, die Aufmerksamkeit der Menschen auf das „bittere Leiden unseres Herrn und Heilandes“, wie man es gerne nannte, zu lenken. Dazu dienten Passionspredigten, Kreuzwegandachten, der Schmerzhafte Rosenkranz, Fünf-Wunden-Gebete und andere fromme Übungen, und die Darstellungen des Schmerzensmannes in allen Formaten, vom monumentalen Denkmal bis zum kleinen Gebetbuchbildchen, zeugen bis in unsere Tage davon. 

Freilich werden diese inzwischen wie Relikte aus einer längst vergangenen, ungeliebten Zeit empfunden. Der heutige Katholik mag sich zunächst an der Art, wie hier der leidende Christus gezeigt wird, stoßen: allzu blutig und entstellt; oder im Gegenteil allzu süßlich, ja kitschig; meistens jedenfalls nicht sonderlich kunstvoll. Doch ehrlicherweise muss er zugeben, nicht nur der Darstellungsweise, sondern auch dem Dargestellten entfremdet zu sein. Die Betrachtung des Gekreuzigten gehört einfach nicht mehr zum religiösen Repertoire eines aufgeklärten Christen. 

Das ist gar nicht weiter verwunderlich, da sich die kirchliche Verkündigung in unseren Landen ja bis auf wenige löbliche Ausnahmen über die Passion des Herrn ausschweigt. Auch bischöfliche Hirtenbriefe zur Fastenzeit ziehen es vor, pastorale Entwicklungspläne und Strukturfragen zu diskutieren, anstatt ein Licht auf die Sündenmisere des Menschen und von dort auf den gekreuzigten Erlöser zu werfen. Die genannten Formen der Volksfrömmigkeit sind folglich weithin zurückgegangen. Selten sieht man vor den Kreuzwegstationen in unseren Kirchen oder im Freien noch Menschen, die das Knie beugen und betend verweilen. 

Spricht man von der Heiligen Messe, über die früher jeder Katechismusschüler zu sagen wusste, sie sei „die unblutige Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu Christi“, so hebt man nun lieber ihren Mahl- und Gemeinschaftscharakter hervor. Dabei handelt es sich bei ihr doch entsprechend den Stiftungsworten Jesu ausdrücklich um die Darbringung seines hingegebenen Leibes und seines für uns vergossenen Blutes, also um sein Opfer. Wie viele sind es, die noch lebhaft daran denken, wenn die eucharistischen Gestalten konsekriert und erhoben werden? – 

In Anlehnung an das geheimnisvolle Wort des Psalmisten: „Ein Abgrund ruft dem anderen Abgrund zu“ (Ps 41,8 [Vulg.]), kann man sagen, dass sich in der Passion des Gottmenschen zwei Abgründe offenbaren: der dunkle Abgrund menschlicher Erbarmungswürdigkeit und der lichte Abgrund göttlichen Erbarmens. Der Ruf aus der Tiefe findet Erhörung, da sich der, welcher das „Licht vom Licht“ ist, selbst in die Finsternisse des Todes hinab begibt, sie umzuwandeln. 

Beide Wirklichkeiten, die der menschlichen Sünde wie die der erlösenden Liebe, können uns nirgendwo in vergleichbarer Weise einsichtig werden wie vor dem Kreuz, im „Schauen auf den, den wir durchbohrt haben“ (Joh 19,37). Daher ist es begreiflich, dass das Bewusstsein von ihnen mit der Passionsfrömmigkeit steht und fällt. Ohne den Blick auf unseren leidenden Erlöser erscheint die Sünde bald abstrakt und zunehmend harmlos, die Rede von Gottes Barmherzigkeit hingegen wird eigentümlich farblos und nichtssagend, verkommt schließlich zur hohlen Phrase. Und auch der spezifische Weg des Christen, dessen Norm das Wort Jesu über die Nachfolge in Selbstverleugnung und täglichem Kreuztragen ist (Lk 9,23), gerät schließlich in Vergessenheit, stattdessen wandelt man auf der breiten und abschüssigen Bahn, die ins Verderben führt (vgl. Mt 7,13 f.). 

Die Folgerung ist einfach: Zurück zur häufigen und intensiven Betrachtung von Leiden und Sterben Christi! Das Gebet des Kreuzweges und des Schmerzhaften Rosenkranzes sind uns wichtige Wege zum Verständnis dessen, was wir in der neutestamentlichen Leidensgeschichte lesen und was auf unseren Altären gegenwärtig wird. Aus einer solchen Spiritualität erwächst dann auch, zusammen mit dem nötigen Lebensernst, die innigste Dankbarkeit: „Wir beten Dich an, Herr Jesus Christus, und sagen Dir Dank, denn durch Dein heiliges Kreuz hast Du die Welt erlöst!“



Hinweise:
- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS)



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