Von P. Bernward Deneke FSSP
Es ist eine der machtvollen Forderungen unserer Tage geworden: „Sei doch normal!“ Fast jeder lässt sich davon beeindrucken; denn wer möchte schon als „abnormal“ gelten und abgestempelt werden?
Unter Normalität versteht man in diesem Zusammenhang das Durchschnittliche. Das, was „man“ eben so tut. Somit regiert ein rein statistischer Wert, der das angebliche oder tatsächliche Verhalten der Mehrheit beschreibt, die Gedanken und Handlungen vieler Menschen. „Bin ich denn normal?“, so fragen sich nicht nur besorgte Jugendliche in der Phase der Identitätssuche. Auch Personen in reiferem Alter kann ein solcher Zweifel verstören und aus der Bahn werfen.
Andererseits lässt sich unter Berufung auf Normalität vieles rechtfertigen. Das Kind, das sich weigert, als einziges aus seiner Schulklasse sonntags mit den Eltern in die Kirche zu gehen; der christlich erzogene junge Mann, der (wie fast alle in seinem Bekanntenkreis) unverheiratet mit seiner Freundin zusammenziehen will; der Angestellte, der nach langem Zureden seiner Kollegen schließlich doch dem Druck des Arbeitgebers nachgibt und falsche Angaben mit seiner Unterschrift bestätigt; die Frau, die sich nach ausführlicher Beratung durch ärztliches Fachpersonal und auf Rat ihrer Freundinnen hin für die Abtreibung ihres wahrscheinlich geschädigten Kindes entscheidet; der kranke alte Mensch, der seinen Willen bekundet, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, weil man das heute so mache: Sie alle ziehen zur Rechtfertigung ihres Handelns vor dem eigenen Gewissen und vor anderen die vermeintliche Normalität heran und verstecken sich hinter ihr.
Als gläubiger Christ könnte man sich nun einfach auf den Standpunkt zurückziehen: „Dann bin ich eben nicht normal!“ Aber das wäre nicht nur allzu demütig, sondern auch wahrheitswidrig, ja unsittlich. Denn auf diese Weise würde man vor einem falschen Begriff von Normalität, letztlich vor einem diabolisch verdrehten Menschenbild einknicken.
Normalität bedeutet: das der Norm Entsprechende, das Gesollte. Dass dieses keineswegs mit dem statistischen Mittelwert des faktisch Gegebenen gleichzusetzen ist, wissen wir aus anderen Bereichen der Wirklichkeit sehr genau. Niemand käme z.B. auf den Gedanken, bei einer Viehseuche die kranken Tiere als die normalen zu bezeichnen, nur weil sie 70% ausmachen. Ebenso denkt und handelt der Mensch auch sonst. Es sei denn, er gerät auf ein Gebiet, auf dem er es aus eigenem Interesse gerne anders hätte… Die Norm nach eigenem Gutdünken zurechtzubiegen, ist aber kein logisches, sondern ein ideologisches Verfahren.
Ein Christ muss deshalb unbedingt an jenem Begriff von Normalität festhalten, der dem gesunden Menschenverstand entspricht und der durch die göttliche Offenbarung noch eine zusätzliche Dimension erhalten hat. Denn in ihr wird uns als Grundlage für menschliche Normalität die Tatsache genannt, dass wir nach Gottes Bild und Gleichnis und auf dieses hin geschaffen sind (Gen 1,27). Die Folgerung daraus: „Seid heilig, denn ich, Jahwe, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2), und: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48), ist zugleich der Aufruf an uns, „normal“ zu werden.
Durch die Menschwerdung Seines Sohnes hat uns der Vater ein noch klareres Richtmass für Normalität geschenkt: Jesus, von dessen Antlitz die Herrlichkeit Gottes so sehr aufstrahlt (vgl. 2 Kor 4,6), dass Er von sich sagen kann: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ (Joh 14,9), und den Paulus daher „das Bildnis des unsichtbaren Gottes“ nennt (Kol 1,15), ist der normale Mensch schlechthin und somit die Norm wahren Menschseins. Und nur in dem Masse, als einer „die Herrlichkeit des Herrn widerspiegelt und in das gleiche Bild verwandelt wird von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2 Kor 3,18), gelangt er auch zur echten Normalität. Es mag kühn klingen, entspricht aber doch den Tatsachen: Die Heiligen, nicht die Sünder und Mittelmäßigen, sind die normalen Menschen!
„Von jedem gibt’s ein Bild des, was er werden soll./Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll“, heißt es bei Friedrich Rückert. In diesem Sinne können wir die heutige Forderung durchaus übernehmen und uns sagen: „Sei doch normal!“ Ja, seien wir heilig – und wir werden den Frieden finden!
Hinweise:
- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS)
Das Anliegen von P. Bernward ist zu unterstützen: Das "Gesollte" und vor allem "Christus als Norm" sind genau die Herausforderungen, die wir Christen über unser gesamtes Leben zu verfolgen haben.
AntwortenLöschenAndererseits ist es mir unerklärlich, warum man gerade den Begriff "Normalität" so ins Schaufenster stellen will, ja vielleicht noch mit dem Anspruch, andere überzeugen zu wollen.
Es heißt in dem Artkel zwar: "Dass dieses keineswegs mit dem statistischen Mittelwert des faktisch Gegebenen gleichzusetzen ist, wissen wir aus anderen Bereichen der Wirklichkeit sehr genau." Und doch liegt genau hier die Problematik:
In der provokanten Frage 'Bist du denn noch ganz normal?' steckt die Aufforderung: Nur nicht zu sehr auffallen, im Notfall besser anpassen, und schon bist du normal.
Die Rechtfertigung z.B. der Abtreibung (das Recht auf den eigenen Körper ist die "jetzt gültige Normalität")ist heute mehr verbreitet denn je - und dagegen mit einer verkopften Interpretation von "Normalität" ankämpfen zu wollen, ist ein Windmühlenmkampf par excellence.
Da halte ich es lieber mit JPII "Gebt euch nicht mit der Mittelmäßigkeit zufrieden" und Kardinal Schönborn, der im Rahmen der "Apostelgeschichte 2010" dazu aufgerufen hat, in den Gemeinden nach Menschen mit Charisma zu suchen, denn es sind gerade diejenigen mit speziellen (oft von der Norm abweichenden) Fähigkeiten, die eine Gemeinde bereichern.
"Jesus ist die Schönheit, die euch so anzieht; Er ist es, der euch provoziert mit jenem Durst nach Radikalität, der euch keine Anpassung an den Kompromiß erlaubt; Er ist es, der euch dazu drängt, die Masken abzulegen, die das Leben verfälschen; Er ist es, der in euren Herzen die wahreren Entscheidungen herausliest, die andere am liebsten ersticken würden. Jesus ist es, der in euch etwas entfacht: die Sehnsucht, aus eurem Leben etwas Großes zu machen; den Willen, einem Ideal zu folgen; die Ablehnung, euch von der Mittelmäßigkeit verschlingen zu lassen; den Mut, euch in Demut und Treue darum zu mühen, euch selbst und die Gesellschaft besser zu machen, damit sie menschlicher und geschwisterlicher werde." JPII, WJT 2000, Rom
lg Stefan
Vielen Dank für den Kommentar, Stefan!
LöschenAbsolute Zustimmung.
Ich denke auch nicht, dass hier ein "Anspruch" besteht, "andere überzeugen zu wollen" von einer bestimmten Definition von "Normalsein".
Aber ab und zu sollte man auf die "wahren" Maßstäbe wieder hinweisen, um sie wenigstens nicht ganz aus den Augen zu verlieren.
Sicher wäre es ein Kampf gegen Windmühlen, wollte man seine Energien dazu ver(sch)wenden, den Leuten ständig erklären zu wollen, was wirklich normal ist...
In der Tat ist die langläufige Wahrnehmung von "Normalität" eine andere...
"Gebt euch nicht mit der Mittelmäßigkeit zufrieden"
und
"Die Heiligen, nicht die Sünder und Mittelmäßigen, sind die normalen Menschen!"
„Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48), ist zugleich der Aufruf an uns, „normal“ zu werden.
Ich denke, das ist das große Anliegen sowohl JP II. als auch das von P. Deneke.
Danke für die schönen und tiefen Zitate von JP II.!
Gern geschehen!
LöschenDein Blog ist ab sofort bei mir verlinkt,
Und ich wünsche Dir eine gesegnete Woche!
Freut mich, danke.
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