Gregor (der Große) rühmt an Benedikts Regel vor allem den Geist des Maßes. Diese Weisheit des Maßes beruht auf der Tugend der discretio, auf dem Unterscheidungsvermögen. Unterscheiden-Können (discernere, wovon discretio abgeleitet ist) galt schon den Altvätern Ägyptens als die Mutter aller Tugenden.
Auch bei Johannes Cassian, der sozusagen Benedikts Lieblingsautor war, spielt die Unterscheidungsgabe eine ganz entscheidende Rolle. Etwa vom Jahr 385 an hat Cassian rund zehn Jahre unter den Mönchen Ägyptens gelebt. In der Form von Vierundzwanzig "Unterredungen" (Collationes") hat Cassian später die geistlichen Unterweisungen berühmter Altväter niedergeschrieben. In der Zweiten Unterredung spricht Altvater Moses zu Cassian und seinem Freund Germanus ausführlich über die Tugend der discretio.
Aus seiner Knabenzeit erinnert sich Moses, daß sich eines Tages beim Heiligen Antonios (den man in Ägypten damals schon den "Großen" zu nennen pflegte) eine Reihe ehrwürdiger Altväter versammelt hatte. Es war beinahe eine Art Konzil, denn sie hatten eine wichtige Frage zu klären.
Die ganze Nacht über suchten sie zu ergründen, auf welchem Pfade der Mönch am sichersten zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen könne, und was ihm am zuverlässigsten vor den Täuschungen und Fallstricken des Teufels bewahren werde.
Da waren einige, die erhofften sich am meisten von Fasten und Nachtwachen: der dadurch ernüchterte Geist werde sich umso leichter Gott einen können.
Andere setzte mehr auf totalen Besitzverzicht: eine Seele, die durch keine Habgier mehr gefesselt sei, werde umso ungehinderter zu Gott streben.
Wieder andere hielten die Einsamkeit und Stille einer Eremitenzelle für ein unübertreffliches Mittel, nur noch Gott anzuhangen. Was dann freilich wieder die Gegenfrage heraufbeschwor, ob nicht nach dem Evangelium die Werke der Barmherzigkeit noch wichtiger seien.
Jeder der Altväter hatte für die Wahl seiner Haupttugend gewichtige Argumente aufzubieten. Schließlich ergriff Antonios das Wort. Für einen Menschen, der nach Gott dürste, seien alle hier aufgezählten Tugenden notwendig und nützlich - freilich nur dann, wenn sie mit der gebührenden discretio geübt würden. Ohne den Geist der Unterscheidung und des Maßes könne jede andere Tugend entarten.
Es gibt nicht nur Exzesse der Gier, sondern auch Exzesse der Entsagung.
Unerleuchteter Eifer beim Üben einer Tugend kann in Untugend umschlagen.
Die Tugend der discretio lehrt den "königlichen Weg" der Mitte, der die Extreme nach beiden Seiten hin vermeidet.
aus Gertrude und Thomas Sartory: Benedikt von Nursia - Weisheit des Maßes; Herderbücherei Bd. 884; AD 1981, S. 118/119 (s. Quellen)
(Hervorhebungen in Fettdruck durch Admin)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen