Samstag, 30. Juni 2012

Tugend ist gefragt!

Von P. Bernward Deneke FSSP, Wigratzbad


Bei dem Philosophen Plotin (ca. 205-270 n.Chr.), einem Heiden, ist folgender, gegen die Gnostiker gerichteter Absatz zu lesen:

„Und das gilt wider sie als Zeugnis: Sie haben keinerlei Untersuchung über die Tugend angestellt. Die Behandlung dieser Fragen fehlt überhaupt bei ihnen. Sie lehren nicht, was ihr Wesen ist und wie viele Teile sie hat; nichts von den vielen hervorragenden Untersuchungen, die die Schriften der Alten enthalten, nicht, woraus die Tugend sich ergeben soll und erworben werden kann, nicht, wie die Seele geheilt und gereinigt wird. Zu sagen: ‘Schaue auf Gott’, das richtet nichts aus, wenn man nicht auch unterweist, wie man dazu gelangen kann. Denn man kann ja recht wohl auf Gott blicken, ohne sich irgendeine Lust zu versagen oder seine Aufwallung zu zügeln; man kann in alle Leidenschaften verstrickt sein, braucht gar nicht den Versuch zu machen, sie irgendwie auszutreiben, und kann dabei doch des Namens ‘Gott’ gedenken. In Wahrheit aber zeigt den Weg zu Gott die Tugend, die in der Seele sich fortschreitend entwickelt im Bunde mit der Einsicht. Wenn man ohne die echte Tugend von Gott redet, so ist das ein leerer Name.“ (Enneaden II 9,33)

Abgesehen von der Ausdrucksweise des antiken Philosophen, könnte man den Eindruck gewinnen, diese Worte seien in unserer Zeit und für unsere Zeit geschrieben worden. Vieles, was uns heute als Spiritualität angeboten wird, weist eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den gnostischen Strömungen auf, gegen die Plotin sich wendet. Wer kennt nicht die gewiss gutgemeinten, aber doch wenig hilfreichen geistlichen Impulse und Animationen von der Art: „die Seele baumeln lassen“, „einfach nur da sein“, „sich ohne Zweck und Ziel dem Licht Gottes aussetzen“…?

Diese Anregungen sind ja nicht in sich falsch, gehört es doch sehr wohl auch zum christlichen Leben, schlicht und gelassen vor Gott zu wandeln und im Licht Seiner Liebe zu verweilen. Und dass sich der ohnehin gestresste Mensch der Gegenwart eher zu einer Wellness-Religiosität hingezogen fühlt als zum geistlichen Kampf, lässt sich leicht nachvollziehen.

Dennoch, die christliche Berufung zur Heiligkeit ist zu konkret, die Nachfolge des Herrn jener Wohlfühl-Mentalität zu sehr entgegen und die echte Mystik zu präzise, um in einen derartig allgemeinen Befindlichkeitsbrei aufgelöst werden zu können.

„Wenn man ohne die echte Tugend von Gott redet, so ist das ein leerer Name.“ Plotin hat recht: Erst durch die Überwindung des alten Menschen, durch die Reinigung von seinen Lastern und schlechten Gewohnheiten wird in wachsendem Masse der Blick auf Gott frei, so wie Er wirklich ist. Diesen Weg können wir nicht aus eigenem Vermögen abkürzen und uns sogleich in eine höhere Beschauung katapultieren, die eher am Ende geistlichen Fortschrittes als am Anfang steht!

Darum wissend, waren die herausragenden Lehrer der Spiritualität und Mystik immer auch Lehrer der Tugend. Sie hielten die Menschen dazu an, sich durch wiederholte, gezielte Übung zum Guten geneigt und fähig zu machen, ähnlich einem Musiker, der so lange auf seinem Instrument übt, bis ihm das Schwere leicht geworden ist und er es spielend meistert. Neigung und Fähigkeit zum Guten, Gewöhnung daran, verbunden mit spielerischer Leichtigkeit: das ist ja mit „Tugend“ gemeint, ob es nun um die Klugheit, die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die Maßhaltung oder welche Tugend auch sonst gehen mag.

In der Tat, auch heute wieder müssen wir wie Plotin bedauern, dass man die „vielen hervorragenden Untersuchungen, die die Schriften der Alten enthalten“, links liegen lässt und ihnen die vordergründigen Inspirationen religiöser Modeautoren vorzieht.

Wie reich und tiefsinnig, dabei genau und lebensnah z.B. die Ausführungen des hl. Thomas von Aquin über die Tugenden sind, das hat der katholische Philosoph Josef Pieper in seinen Büchern eindrucksvoll gezeigt. Versteht man mit ihm die Tugend als ein „Im-Sprunge-Sein zum Guten hin“, so verliert der Begriff alles Langweilige und Altbackene, das ihm nach Meinung mancher anhaftet, und offenbart seine innere Dynamik, seine brennende Aktualität. Menschen, die in diesem Sinne tugendhaft sind, brauchen wir so sehr! Sie heranzubilden, ist das Ideal aller christlichen Erziehung und Bildung.

Gerade wer ein geistliches Leben führen will, wer sich zum Gebet und zur Betrachtung hingezogen fühlt, muss sich auch um Wachstum in der Tugend bemühen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass seine religiösen Regungen Schall und Rauch sind, fromme Illusionen, die vor der Wahrheit Gottes, den Ansprüchen der Menschen und vor der eigenen Berufung nicht standhalten werden. 


Hinweise:
- mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
- der Beitrag erschien bereits im
Schweizerischen Katholischen Sonntagsblatt (SKS



Weiteres zum Thema Tugendlehre:
Johannes Roger Hanses:
Die neue Lehre in der neuen Kirche (bitte HIER klicken!)





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5 Kommentare:

  1. Unfassbar, so alt und doch so aktuell!! ich bin beeindruckt und vielleicht sogar ein wenig beschämt, denn teilweise fühl auch ich mich angesprochen...
    Toller Beitrag!!

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    1. Danke für den Kommentar.
      Ich glaube, wir dürfen uns alle ein wenig davon angesprochen fühlen... :-)

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  2. "Erst durch die Überwindung des alten Menschen, durch die Reinigung von seinen Lastern und schlechten Gewohnheiten wird in wachsendem Masse der Blick auf Gott frei, so wie Er wirklich ist." Wie wahr!!! Selig die reinen Herzens sind, sie werden Gott schauen....
    Werde mir darüber Gedanken machen.
    Vielen Dank für die klugen Ausführungen von P. Deneke.

    Ich habe übrigens gefunden, was Du mich in meinen Archiven zu suchen gebeten hast. Die beiden Artikel sind allerdings lediglich Fragmente. Deshalb werde ich sie kurz überarbeiten und neu verfassen.
    Lieben Gruß!!
    Johannes

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  3. "Erst durch die Überwindung des alten Menschen, durch die Reinigung von seinen Lastern und schlechten Gewohnheiten wird in wachsendem Masse der Blick auf Gott frei, so wie Er wirklich ist." Wie wahr!!! Selig die reinen Herzens sind, sie werden Gott schauen....
    Werde mir darüber Gedanken machen.
    Vielen Dank für die klugen Ausführungen von P. Deneke.

    Ich habe übrigens gefunden, was Du mich in meinen Archiven zu suchen gebeten hast. Die beiden Artikel sind allerdings lediglich Fragmente. Deshalb werde ich sie kurz überarbeiten und neu verfassen.
    Lieben Gruß!!
    Jo

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