Die folgende Betrachtung entstammt der Schrift "Die Enzyklika "Humanae Vitae" - ein Zeichen des Widerspruchs" von Dietrich von Hildebrand und befasst sich mit dem Begriff des Gewissens, denn der Terminus wird oft falsch verstanden, was zu problematischen Voraussetzungen für ein sittliches Handeln führt.
1. Gewissen und Erkenntnis des Sittengesetzes
Weitverbreitet ist auch die These, daß es dem Gewissen des Einzelnen überlassen werden müsse, ob er die Pille zur Verhütung der Empfängnis anwende oder nicht (1). Eine verhängnisvolle Verwirrung kommt in dieser These zum Ausdruck, eine völlig irrige Verwendung des Terminus Gewissen.
Die Frage, ob etwas an sich gut oder böse ist, kann nie vom Gewissen beantwortet werden; sie ist für das Sprechen des Gewissens immer schon vorausgesetzt. Es ist ein ganz anderes geistiges Organ, mit dem wir sittliche Werte und Unwerte erfassen. Das Gewissen spricht erstens immer nur dann, wenn es sich um unser eigenes Tun und Lassen handelt; es sagt uns nicht, ob das Verhalten eines anderen sittlich richtig ist. Wenn wir einsehen, daß jemand ungerecht gehandelt hat oder wenn uns die Güte und Reinheit eines Menschen tief beeindruckt, so ist es nicht unser Gewissen, das uns den Wert oder Unwert der fremden Person erschließt. Dasselbe gilt für die prinzipielle Einsicht, daß Morden böse ist, daß Stehlen sittlich schlecht ist, daß Gerechtigkeit gut ist usw. Über all dies belehrt uns die sittliche Fähigkeit, sittliche Werte und Unwerte zu erfassen - unsere Wertsichtigkeit.
Zweitens spricht die geheimnisvolle Stimme des Gewissens primär, indem sie uns warnt, in einer konkreten Situation das sittlich Schlechte zu tun, von dem wir bereits prinzipiell wissen, daß es sittlich schlecht und unerlaubt ist. Es bezieht sich mehr auf die Vermeidung eines sittlichen Übels als auf das rein sittlich Positive, das zu tun wir nicht verpflichtet sind.
Das Gewissen ist der advocatus Dei in der Seele des Menschen - es spricht warnend, wenn wir in einer bestimmten Situation in Versuchung sind, etwas Schlechtes zu tun oder wenn jemand uns zu überreden sucht, in etwas sittlich Schlechtes einzuwilligen. Es ist die geheimnisvolle Stimme, die uns den einzigartigen Ernst der sittlichen Frage zu Bewußtsein bringt, die uns allen üblen Wünschen, allem schwachen Nachgeben gegenüber die Forderung, Gott nicht durch eine sittlich unrechte Tat zu beleidigen, in ihrer ganzen Majestät vor Augen stellt.
Es setzt aber immer ein Wissen um den prinzipiellen sittlichen oder vermeintlich sittlichen Charakter eines Verhaltens voraus. Es sagt uns: Tu das nicht, weil es böse ist - es fordert uns auf, genau zu prüfen, ob unser Verhalten in diesem konkreten Fall mit dem Sittengesetz übereinstimmt. Die Gewissenserforschung über Vergangenes sowie die Prüfung vor dem Gewissen, die einem Handeln vorausgeht, bezieht sich immer auf das Verhalten der eigenen Person und auf die konkrete Anwendung auf den Einzelfall und primär auf das Vermeiden des sittlich Negativen oder auf begangene sittliche Verfehlungen.
Es setzt aber immer eine nicht vom Gewissen stammende Überzeugung über den prinzipiellen sittlichen Wert oder Unwert eines Verhaltens voraus. Nun dürfen wir nicht vergessen, daß der Mensch in seiner Wertsichtigkeit durch viele Faktoren bedroht ist. Es gibt viele Formen sittlicher Wertblindheit. Omnis homo mendax (jeder Mensch ist ein Lügner) gilt hier in besonderer Weise. (weiterlesen)
Fortsetzung folgt
(1) Anm.: Genauso könnte es heißen: "Weitverbreitet ist auch die These, daß es dem Gewissen des Einzelnen überlassen werden müsse, ob und wie er die hl. Kommunion empfängt, obwohl er geschieden und wiederverheiratet ist und in schwerer Sünde lebt."
aus: Dietrich von Hildebrand, Die Enzyklika "Humanae Vitae" - ein Zeichen des Widerspruchs; Verlag Josef Habbel Regensburg; AD 1968
Foto: privat
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