Donnerstag, 24. November 2011

Ich gehe zu dem, der mich gesandt hat

A. v. Droste-Hülshoff 1838
Das geistliche Jahr - Geistliche Lieder
von
Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)

Am vierten Sonntag nach Ostern (Joh16,5-14)
(passt aber genauso gut in diese Novembertage)

"Ich gehe zu dem, der mich gesandt hat."

Nicht eine Gnadenflamme hehr
Vor deinem Volke soll ich gehn;
Nein, ein versteinert Leben schwer
Wie Sodoms Säule muß ich stehn
und um mich her
Die Irren träumend schwanken sehn.

Und ob mich Oede auch umgibt,
Und ob mich würgt der Nebel fast,
Mir Wirbelsand die Augen trübt
Doch weiß ich, daß mein Herz dich faßt
Daß es dich liebt,
Und daß du mich gesendet hast.

Den Lebenshauch halt ich von dir,
Unsterblich hast du mich gemacht;
Nicht Glut, nicht Dürre schadet mir.
Ich weiß, ich bin in deiner Wacht,
Und muß ich hier
Auch stehn wie ein Prophet der Nacht.

Ich hebe meine Stimme laut
Ein Wüstenherold für die Not:
Wacht auf, ihr Träumer, aufgeschaut!
Am Himmel steigt das Morgenrot.
Nur aufgeschaut!
Nur nicht zurück, dort steht der Tod!

Nur aufgeschaut, nur nicht zurück!
Laßt Menschenweisheit hinter euch!
Sie ist der Tod; ihr schnödes Glück
Ist übertünchtem Grabe gleich.
O hebt den Blick!
Der Himmel ist so mild und reich.

Könnt' ich mein Auge heben nur,
Mein steinern Auge zu dem Blau:
Wie sög' ich aus der Himmelsflur
So liebekrank den milden Tau!
Doch hat Natur
Und Schuld verschlossen mir die Brau.

Grab in Mersburg; Foto: Stefan-Xp
Ob nimmer sich die Rinde hebt?
Ach einmal, einmal muß es sein!
Wenn Sodoms Säule sich belebt,
Dann bricht auch meine Stunde ein,
Wenn es durchbebt
Den armen blutberaubten Stein.

Dann soll ich wissen, was ich bin,
Warum so todesstarr und matt;
Dann weiß ich, was den klaren Sinn
Getrieben zu der öden Statt;
Dann knie ich hin
Vor dem, der mich gesendet hat.

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